Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
ein Kleid?«
Zum ersten Mal an diesem Tag schien es, als würde Huck tatsächlich grinsen. »Na, weil er auf sie steht! Joe steht auf schwarze Mädels, wusstest du das nicht?«
Tom kam sich dumm vor, er schüttelte stumm den Kopf.
Hucks Grinsen wurde breiter. »Kannst du ja nicht wissen, warst ja dann weg. Aber hast du dich nich’ gewundert, dass der Sheriff keine Frau hat? Ist im besten Alter, hat ’ne gute Arbeit, säuft nich’ und sieht ja nich’ mal schlecht aus. Aber er findet halt keine, die ihm gefällt und die er heiraten kann, ohne dass man ihn aus der Stadt jagt. Joe hat schon immer eine Schwäche gehabt für Schwarze. Frag mal Clytie aus Madame Paulines Stall. Joe war regelmäßig Gast bei ihr. Irgendwann hat sie ihn rausgeschmissen, weil er wohl zu grob war. Den Sheriff, stell dir mal vor! Darfst es aber nicht weitererzählen, hab ich von Clytie selber, und Joe wär bestimmt stinksauer.«
Huck lächelte, aber Tom sah durch ihn hindurch.
Der Sheriff.
Lässt sich mit einer Schwarzen ein. Kurz vor der Wahl. Er macht ihr Geschenke. Wenig später geht sie zu Polly, und Polly redet von einer neuen Kundin. Hat Polly ihr geholfen? Ein Kind weggemacht? Joes Kind? Und dann wird Polly ermordet, und Hattie verschwindet, und Joe fährt mit einem Karren und mit irgendetwas unter einer Plane durch die Hooper Street, obwohl er angeblich beim Anleger ist. Weitere Frauen waren davor verschwunden. Auch eine weitere schwarze Frau. Und immer ist der Sheriff in der Nähe und findet keine Spuren und lässt die Sache auf sich beruhen.
Tom sah das Bastpüppchen mit den langen Haaren vor sich, das Debbie Chisholm in der Hand gehalten hatte. Und er sah Joe Harper mit seinen langen Haaren, der lieber nach verschwundenen Hunden suchte als nach verschwundenen Frauen. Joe Harper, der ständig unterwegs war und nie Verdacht erregte und der kein Interesse daran hatte, dass sein alter Jugendfreund Huck Finn seinen Bauchschuss überlebte. Joe Harper, der viel zu verlieren hatte, wenn Polly erfuhr, von wem Hattie schwanger war.
Joe Harper.
Tom griff über seinen Kopf nach den Kleidern. Das Feuer trieb die Feuchtigkeit in kleinen Dampfwolken zu dem Felsvorsprung. Er stand auf, schnappte sich das noch immer klamme Hemd und schlüpfte hinein.
Huck merkte auf. »Du gehst?«
»Warte nicht auf mich, Huck. Wenn ich bis morgen Abend nicht zurück bin, solltest du nach Illinois gehen oder mit dem Boot nach Süden fahren. Weit nach Süden.«
Huck sah betrübt in das Feuer. Er seufzte, dann blickte er wieder auf. »Wo willst du hin, Tom?«
»Ich besuche einen alten Freund.«
Main Street,
am Morgen des 17. Juli 1865
Becky stockte der Atem.
Dieser verdammte Joe Harper! Er hatte es getan.
Der Mistkerl hatte tatsächlich eine Druckerei gefunden, vermutlich Mannheimer’s in Palmyra!
Sie stand auf der 3 rd Street und starrte auf das fleckige Papier, minderwertiger Holzschliff, wie sie fand, auf dem der Steckbrief abgedruckt war.
Jemand hatte ihn mit einem Nagel an der Eiche befestigt, die zwischen dem Schlachter und Cooks Schneiderei für etwas Schatten sorgte. Die Zeile »tot oder lebendig« hatte ihre Müdigkeit augenblicklich vertrieben. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und war dann noch in der Dunkelheit aufgestanden, um zur Redaktion zu gehen. Es war früh am Morgen, die Dämmerung war gerade eben den ersten Sonnenstrahlen gewichen, und die Wolken am Horizont schimmerten in der Farbe von getriebenem Kupfer. Die Buden und Stände, die die Händler für die Feiern zum Sommerfest mit dem Jahrmarkt und für die dabei stattfindende Sheriffwahl errichteten, standen halb fertig und verlassen am Straßenrand. An der Ecke zur Main Street lungerten drei Indianer herum und warteten darauf, dass der Drugstore aufmachte. Sonst war niemand auf der Straße.
Sie blickte über die Schulter, dann riss sie den Steckbrief vom Baum, knüllte das Papier zusammen und ließ es zu Boden fallen. Hastig lief sie über Cooks Veranda und ging auf ihre Redaktionsräume zu. Als der Sheriff gestern Nachmittag zu ihr gekommen war, hatte sie ihm das druckfrische Exemplar des Chronicle in die Hand gedrückt, auf dessen Titelseite Toms Geschichte über seinen Weg zu Lincoln und über die bisherigen Ergebnisse seiner Recherchen prangte. Becky hatte in dem Artikel auch seine Kandidatur für den Posten des Sheriffs in St. Petersburg erwähnt und war mit dem Setzen der Bleilettern und dem Andruck dermaßen beschäftigt gewesen, dass sie den Rauch und den
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