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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Warum ähneln manche von uns ihrem Vater und andere ihrer Mutter? Warum haben ein schwarzer Rammler und eine weiße Zibbe nur schwarze Kaninchen als Nachwuchs? Aber unter deren Kindern sind wiederum weiße zu finden? Ein Augustinermönch aus Brünn in Österreich hat es herausgefunden, weißt du, Tom? Er hat Erbsen gekreuzt, gelbe und grüne wie diese hier, und er hat so die Geheimnisse der Vererbung entschlüsselt.« Dobbins ging zu den kleinen Büschen, deutete auf die Schoten und schwärmte weiter über die Vererbung ihrer Merkmale.
    Tom wusste nicht, ob es daran lag, was Dobbins ihm erzählte, oder daran, wie er es erzählte, jedenfalls trat nach ein paar Sätzen das ein, was schon vor bald zwanzig Jahren tagtäglich eingetreten war: Es gelang ihm nicht mehr, zuzuhören. Als wäre er wieder zehn Jahre alt und lauschte seinem Lehrer, wie der von Moses und Aaron sprach, von Lewis und Clark, von North und South Carolina, machte Tom ein aufmerksames Gesicht und nickte zuweilen. Doch sein Blick verschwamm, und Tom hing seinen eigenen Gedanken nach, ohne ein Wort von dem zu verstehen, was Dobbins ihm über die Erbsen zu erklären versuchte.
    Hinter Dobbins stand Becky am Haus bei einer Wäscheleine und hängte den Lappen, mit dem sie ihm die Stirn gekühlt hatte, zum Trocknen auf. Die untergehende Sonne tauchte Beckys blonden Schopf in ein goldenes Licht, fast so, als würde eine Gloriole sie umgeben. Und sie machte mit ihren tief stehenden Strahlen Beckys hellen Rock durchscheinend. Tom staunte. Die hatte Beine. Junge, Junge! Was für Beine!
    Warum gab es ihm einen Stich, dass sie Sid heiraten wollte? Nur wegen Sid? Oder wegen ihr? Er hatte sie fast zehn Jahre nicht gesehen, fast zehn Jahre nicht an sie gedacht. Oder nur manchmal. Na gut, mehr als nur manchmal. Aber in den Wochen seit Lincolns Ermordung kaum noch. Warum war es ihm plötzlich nicht mehr egal? Sie hatte ihn beeindruckt, vorhin, als sie so selbstverständlich in ihrer Redaktionsstube stand und ihm erzählt hatte, wie sie den Laden schmiss. Wie sie die Druckerpresse angeworfen hatte. Wie sie ihn verspottet hatte. Fast wie früher.
    Tom schüttelte sich. Es war nicht wie früher. Nichts war wie früher. Er nicht, Becky nicht, nicht einmal Sid. Die Ereignisse des Tages, Pollys Tod, das alles hatte ihn verwirrt. Es durfte nicht so sein wie früher. Er würde nicht nach zehn Jahren zurückkommen und alles durcheinanderbringen. Sich selbst durcheinanderbringen. Sid brauchte ihn nicht, Polly war zu Grabe getragen, den Rest würde sein Halbbruder auch allein schaffen. Mit Beckys Hilfe.
    Becky.
    Er wollte niemanden durcheinanderbringen.
    Er musste es beenden. Am besten sofort.
    Tom blickte auf und merkte, dass Dobbins ihn fragend ansah. Er hatte ihm offensichtlich eine Frage gestellt, aber Tom hatte nicht zugehört. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nichts heraus.
    »Ja, Tom? Weißt du es?«, ermunterte Dobbins ihn.
    »Sir, ich …« Tom hob entschuldigend die Arme.
    Dobbins trat einen Schritt auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Entschuldige bitte, Tom«, sagte er leise. Seine Stimme war sanft, und er räusperte sich. »Da steh ich und rede und rede, als wäre nichts passiert. Es tut mir furchtbar leid. Das mit Polly, meine ich. Die arme Frau. So ein Ende hat sie nicht verdient. Du musst ganz durcheinander sein.«
    Tom schwieg. Dann nickte er. »Das bin ich. Aber das lässt sich ändern.« Er wandte sich um. »Ich muss deinen Vater sprechen, Becky. Sofort.«
    ~~~
    »Es müsste alles so formuliert sein, wie du es wolltest, Tom. Bitte lies es durch, du auch, Sid, damit wir sicher sind, dass alles in Ordnung ist.« Richter Thatcher schob das Blatt Papier mit den geschwungenen Buchstaben über den schweren dunklen Eichentisch. Dann stellte er ein Tintenfass dazu und legte eine Schreibfeder daneben.
    Tom überflog das Schriftstück nur oberflächlich, während Sid sich beflissen darüberbeugte und es angestrengt studierte. Toms Blick ging zum Fenster. Draußen war die Sonne hinter Sumachsträuchern untergegangen. Ein paar laut quiekende Schweine wurden durch die Hill Street zum neuen Schlachthaus beim Anleger getrieben.
    Sie befanden sich im getäfelten Arbeitszimmer des Richters im oberen Stockwerk der Stadtvilla mit dem ausladenden Portal und den weißen Säulen. Schwere Teppiche dämpften jedes Geräusch, nur das Knistern eines kleinen Feuers im Kamin störte die Totenstille. Falls Becky noch im Haus war und nicht in der

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