Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
schluchzte. Tom riss an den Ledergurten, bis ihm schlecht und schwindelig wurde vor Schmerzen. »Was wollen Sie jetzt tun? Bringen Sie uns um? So wie die anderen?«
Dobbins’ Züge entspannten sich schlagartig. Er lächelte, schüttelte den Kopf, ging zum Regal und blies eine weitere Lampe aus. Dann noch eine. Er nahm die letzte verbliebene Lampe von einem Haken an der Wand, griff nach seiner Reisetasche, nahm einen braunen Mantel und einen Bowlerhut von einem Stuhl und ging wieder zu den Tischen. Er hatte eine kleine Phiole in der Hand.
»Nein, Tom, das werde ich nicht. Ich bin kein Unmensch. Ich bringe niemanden um. Die Natur wird das Problem auf ihre Art lösen. Ich lasse euch hier. Dir und Becky war es schon vor langer Zeit bestimmt, in dieser Höhle zu bleiben, weißt du? Du hast so anschaulich von eurem Abenteuer in der Höhle erzählt, damals, als du bei Polly zu Hause auf dem Sofa gelegen hast. Du hast gesagt, Becky habe sich schon aufgegeben gehabt und sei eingeschlafen. Heute wird es anders sein und doch wieder genauso.«
Dobbins stellte die Tasche ab und hielt Tom die Nase zu. Der Schmerz schoss ihm in den Kopf wie eine Kugel. Tom bäumte sich auf, er brüllte, und dann spürte er eine wässrige Lösung im Mund. Die Phiole!
»Nicht, Tom! Schluck es nicht!«, schrie Becky.
Tom wollte ausspucken, doch Dobbins hielt ihm immer noch die Nase zu. »Oh doch, Tom. Schluck es! Du wirst es schlucken, sei ein braver Junge!«
Tom meinte bereits, ersticken zu müssen, als er schließlich durch den Mund tief Luft holte. Er spürte, wie ihm das Zeug die Kehle hinunterrann.
»Gut so, Tom. So ist es gut. Ich habe dasselbe Mittel auch Hattie gegeben, und das sind nicht diese harmlosen Beruhigungskräuter, die ich dir am ersten Tag für den Tee gegeben habe. Du bist müde, Tom?« Dobbins strich ihm sanft übers Haar. »Dann schlaf doch endlich. Das Mittel wird dir helfen.«
Er lachte, und Tom rang nach Luft, als Dobbins ihn endlich losließ. Er spie den Rest der Flüssigkeit aus. »Sie werden in der Hölle schmoren, Dobbins. Sie werden brennen!«, japste er.
»Ach ja?« Dobbins ging zu Becky, setzte sich auf die Tischkante und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie wandte sich ab, wimmerte, schüttelte den Kopf, damit er aufhörte. Dann nahm Dobbins die Scherbe, die er Beckys Hand entwunden hatte, packte ihr Handgelenk und schnitt ihr in den Unterarm. Das Blut schoss pulsierend aus den Adern.
Becky schrie, und Tom riss an den Ledergurten, die ihn an Brust, Armen und Beinen fesselten. »Nein! Nicht!«
Dobbins erhob sich, zog den Mantel an und griff nach seiner Reisetasche.
»Komm, Hollis!« Er pfiff, und Hollis lief schwanzwedelnd zu ihm und sprang auf seinen Arm. Dobbins lächelte Tom an und setzte den Hut auf. Er tippte sich an die Krempe. »Auf Wiedersehen, Tom. Und schlaf schön.«
Er blies die letzte Lampe aus, und seine Schritte verhallten in vollkommener Dunkelheit.
~~~
Tom schrie ihm nach, aber Dobbins kehrte nicht zurück.
Als sein Schrei verhallt war, herrschte nur noch Stille in der Höhle. Alles war dunkel. Um Tom herum und auch in ihm. Neben sich hörte er Becky leise stöhnen. »Tom!«
»Versuch, deine Hand aus dem Gurt zu bekommen. Oder den Fuß. Den einen Riemen hast du schon angeschnitten, er wird reißen, probier es!«
Er hörte, wie sie an den Lederriemen zog und zerrte und wie sie stöhnte vor Anstrengung und vor Schmerzen. Schließlich erlahmten die Bewegungen. »Ich … Es geht nicht!«
Tom zerrte wieder an seinen eigenen Gurten, er stemmte sich mit dem Rücken hoch, versuchte, die Riemen zu zerreißen oder seine Gliedmaßen aus den engen Schlaufen zu winden, bis er einen Krampf im Nacken bekam und sein Hals sich zusammenzog vor lauter Schmerzen. Irgendwann blieb er erschöpft liegen und atmete heftig.
Es war sinnlos. Die Gurte gaben nicht nach. Er war müde, spürte ein warmes, wohliges Gefühl von Mattigkeit von seinen Beinen nach oben kriechen.
Nicht schlafen! Du darfst nicht schlafen!
Becky keuchte. Als er sich langsam beruhigt hatte, hörte Tom, wie neben ihm etwas auf den Boden tropfte, und er wusste, dass es Beckys Blut war.
»Becky?«
Sie schwieg. War sie ohnmächtig?
»Becky! Becky, sag etwas!«, rief er entsetzt.
»Tom?« Ihre Stimme klang dünn und erschöpft.
»Ja?«
»I-ich schaff das nicht, Tom. Ich schaff es nicht mehr.«
»Du darfst nicht aufgeben, Becky! Wir kriegen das hin! Wir kommen hier raus, du wirst schon sehen!«
Sie antwortete nicht, ihr Atem
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