Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
geschlossen.
Tom war aufgesprungen, und hatte sein Ohr an ihre Brust gelegt. Dann hatte er Coopers Hand auf der Schulter gespürt.
»Sie ist schwach. Aber sie wird es schaffen, Mr Sawyer.«
Die Worte klangen immer noch in Toms Ohren. Es waren die schönsten Worte, die er je gehört hatte, und Cooper war verblüfft zusammengezuckt, als Tom ihm um den Hals gefallen war. Als er Cooper in die angrenzende Kaverne geführt hatte, um ihn zu Hattie zu bringen, hatten nur noch gelöste Fesseln auf dem Boden gelegen. Cooper, in dessen Augen die Hoffnung aufgeflammt war, hatte bestürzt zu Boden geblickt. Dann war Tom der Reisekoffer wieder eingefallen.
Groß genug für die zierliche Hattie. Und Dobbins war kräftig genug, sie herauszuschaffen. Er musste es getan haben, als er und Becky ohnmächtig gewesen waren. Doch wie wollte Dobbins mit einem Reisekoffer aus der Stadt kommen? War er schon weg?
Wo bist du, du verdammter Hurensohn!
Tom drehte sich um und ließ den Blick über die Köpfe schweifen. Eine hübsche junge Dame mit einem Sonnenschirm. Zwei Familien, die sich begrüßten, eine davon die Gustavsons. Wallace, der Bankangestellte, der gedünstete Austern aus einer Dose löffelte. Dutzende, Hunderte Gesichter, aber kein Mann mit Kinnbart und braunen Haaren. Und keiner, der einen Hund bei sich hatte. Oder hatte er Hollis gar nicht mitgenommen? Sondern ihm das gleiche Ende wie den anderen bereitet?
Toms Schläfen pochten.
Ausgerechnet dem anderen Hollis, dem Hilfssheriff, hatten er und Becky ihre Rettung zu verdanken, wenn es stimmte, was Tom von Cooper erfahren hatte. Verstanden hatte er es nicht so recht. Aber darüber musste er sich jetzt auch nicht den Kopf zerbrechen. Er hatte andere Sorgen.
Wo steckst du? Bist du schon weg?
Tom merkte auf, als er einen Bowlerhut in der Menge vor sich auf der Main Street entdeckte. War das Dobbins? Der Mann war gut vierzig Schritt entfernt und bewegte sich von Tom weg. Trug er einen Bart?
Dreh dich um! Dreh dich verdammt noch mal um!
Tom umklammerte den Revolver, den ihm Cooper in der Höhle überlassen hatte. Als die Glocke des Dampfschiffs vom Anleger her ertönte, strömten plötzlich Menschmassen aus den Geschäften und Saloons. Sie schoben sich in Richtung Broadway, der zum Anleger führte, und Tom verlor den Mann wieder aus den Augen. Die Menge erwartete die Ministrel-Kapelle des Schiffs beim Fest sowie zahlreiche neue Gäste, und niemand schien sich das Spektakel des Anlegemanövers entgehen lassen zu wollen. Wo war der Kerl mit dem Hut von eben nur? War es Dobbins gewesen?
Plötzlich war er wieder da, halb verdeckt von einem Wagen, der Hühner in Käfigen zum Anleger transportierte. Der Mann mit dem Bowlerhut blickte zaghaft über die Schulter, als suchte er die Straße nach Verfolgern ab. Ein Bart. Ein brauner Mantel. Und die kleinen blitzenden Augen, die Tom seit fast dreißig Jahren kannte.
Dobbins.
Einen Lidschlag trafen sich ihre Blicke. Dobbins zuckte zusammen, verzog das Gesicht zu einer zornigen Grimasse, duckte sich und verschwand so plötzlich in der Menge, wie er aufgetaucht war. Tom drängte sich an den Leuten vorbei. Doch die Menschen, die zum Anleger strömten, keilten ihn ein, und er kam nicht schneller voran, als die träge Masse sich fortbewegte.
»Aus dem Weg! Platz da!«
Einige Leute drehten sich murrend um, doch niemand leistete seiner Aufforderung Folge. Die Leute lachten oder grunzten verärgert, als Tom sich an ihnen vorbeidrängte. Kurz sah er den Hut nochmals in der Menge aufblitzen, dann war er verschwunden.
Verdammt! Verdammt! Verdammt!
Tom stützte sich auf die Schultern zweier Männer vor ihm, um besser sehen zu können.
»Hey! Lassen Sie das, Mister!«
Nichts. Der Hut blieb verschwunden. Die Männer schüttelten ihn ab, und Tom schob sich weiter an den nach Schweiß und Schnaps riechenden Schaulustigen vorbei. Zum Anleger! Wollte Dobbins mit dem Dampfschiff fliehen? Aber wo war der Koffer? Dobbins musste große Mühe haben, damit durch die Menge zu kommen.
Tom drückte sich an einer Gruppe Kinder vorbei, schob einen Fallensteller, der Felle zum Verkauf anbot, aus dem Weg und stand schließlich heftig keuchend auf dem überfüllten Anleger. Die dicken Taue, die von der Aleck Scott an Land geworfen wurden, klatschten auf das Holz. Tom drehte sich einmal im Kreis.
Kein Hut, kein Mantel, kein Dobbins.
Die Landebrücke wurde vom Dampfschiff auf den Anleger geschoben, und Tom drängte sich nach vorn, damit er jeden sehen konnte,
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