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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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dieses Land, Tom, weil es ein Krieg der Armen und Unterprivilegierten war, ein Krieg des Pöbels. Und der Pöbel ist dabei gestorben, nicht die Elite. Doch dieser Segen wird leider nicht lange andauern. Ein Junge wie Henry Gustavson wird immer sieben Geschwister haben, genauso schief und beschränkt wie er selbst und wie sein schielender Vater. Und jemand wie Richter Thatcher hat bestenfalls zwei oder drei, manchmal vier Kinder wie die hübsche, gesunde und sehr schlaue Becky. Dieses Missverhältnis ist wider die Natur. Darwin sagt: Alles, was gegen die Natur ist, hat auf die Dauer keinen Bestand. Und damit hat er verdammt noch mal recht! Und deine Tante, Tom, hat ausgerechnet die Kinder der Frauen abgetrieben, die einen besseren Stand in der Gesellschaft hatten. Die schlau sind und gesund und die es sich leisten konnten abzutreiben. Und die das Kind unbedingt hätten austragen sollen, wenn es nach der Natur gegangen wäre. Deine Tante war die Antithese jeder sinnvollen natürlichen Auslese.«
    Tom blickte gehetzt von Dobbins zu Becky. Ihre Fingerspitzen drehten das Glas mit dem Frosch ein wenig, sodass es näher auf sie zurückte. Als Dobbins keine Erwiderung von Tom hörte, drehte er sich um, und Becky zog die Hand schnell zurück.
    Dobbins ging lächelnd auf Toms Tisch zu, ein Skalpell in Hand. »Und diese Stadt wäre nicht da, wo sie ist, wenn ich ihr nicht seit Jahren unschätzbare Dienste erweisen würde.«
    Tom starrte auf das Skalpell in Dobbins’ Hand und schnaubte. »Unschätzbare Dienste? Sie haben die Frauen entführt und ermordet.«
    Dobbins’ Lächeln gefror. Er schüttelte ungehalten den Kopf, wie er es immer bei den begriffsstutzigen Schülern getan hatte. »Nein, nein, nein! Manche sind gestorben, das gebe ich zu. Aber das war nicht ich. Das war die Natur, Tom!«
    Dobbins hob das Skalpell in die Höhe und sprach leise weiter. »Andere dagegen leben. Kinder, deren unfruchtbaren Müttern oder deren von Erektionsstörungen betroffenen Vätern ich mit einem Tee oder mit einem guten Rat geholfen habe. Mithilfe der Natur. Und anderes Leben habe ich verhindert, unwertes Leben. Mithilfe der Natur. Wie bei dir, als du zu ›Madame Pauline’s‹ gegangen bist. Wie bei so vielen anderen. Ich habe aus dieser Stadt unwertes Leben entfernt und die Population dadurch gestärkt. Du glaubst mir nicht? Debbie Chisholm war nie ein großes Licht, und ihr Mann ist fast debil. Hätten diese Leute Kinder bekommen sollen? Und Debbie Chisholm lebt und darf sich in ihrer Einfalt des Lebens erfreuen, das ich ihr geschenkt habe.«
    »Die Frau ist wahnsinnig geworden. Das ist Ihre Schuld!«
    »Ach was!«, fuhr Dobbins auf. Zornig riss er die Hände hoch, drehte sich um, ging zur Höhlenwand und nahm einige Fotografien und Skizzen ab, die dort hingen. Er schwieg.
    Tom nickte Becky zu, und sie streckte die Finger wieder zu dem Einmachglas. Wenn sie das Glas weiter zu sich heranschob, würde es über die Tischplatte schaben. Dobbins musste weitersprechen, damit er es nicht hören konnte.
    »Und das war der Grund? Das war der Grund, warum Polly sterben musste?«, fragte Tom.
    »Nein. Nicht nur.« Dobbins betrachtete die Bilder in seinen Händen einen Moment lang, dann steckte er sie in die Reisetasche zu den anderen Papieren und ging zum Regal. »Solange sie sich an ihre eigene Kundschaft hielt, ließ ich sie gewähren. Sie wurde erst zu einem ernsthaften Problem, als sie sich wegen irgendeiner religiösen Spinnerei und wohl aus Mitgefühl für die Nigger dann auch noch mit Hattie angefreundet hat. Meiner Hattie.«
    Becky konnte das Glas nun mit der ganzen Hand greifen. Sie zog es näher zu sich hin und schob die Finger um den spangenartigen Verschluss am Deckel.
    Dobbins nahm einen Tiegel aus dem Regal und betrachtete den Aufkleber prüfend durch seine Brille, stellte ihn dann wieder zurück und zog einen anderen hervor. Er lachte auf. »Arme, dumme Hattie; die dachte doch tatsächlich, der Allmächtige hätte ihr ein Kind geschenkt, weil sie es im Schlaf empfangen hatte und nicht wusste, dass ich der Allmächtige gewesen war.«
    Tom merkte auf. »Was?«
    Dobbins nickte lachend. »Ja. Ich arbeite auch an Mischlingen, weißt du? Warum bekommt Mendel es bei Erbsen hin, aber ich nicht beim Menschen? Ich meine das mit der Farbe? Bei Fanny George, dem Niggermädchen von Sparks, dem Stellmacher, habe ich noch viele Fehler gemacht. Aber danach wähnte ich mich um einiges weiter, und da ich von Joe Harpers Schwäche für Niggerfrauen

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