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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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ging langsam. Das Tropfen blieb.
    Tom bekam eine Gänsehaut. »Becky? Becky, hörst du? Wir schaffen das!«
    Sie hustete. »Du vielleicht, Tom. Du schaffst es immer irgendwie. Du warst schon als Junge so. Du hast immer einen Ausweg gefunden. Ich nicht.«
    »Hör mir zu! Du wirst noch mal versuchen, den Riemen zu zerreißen! Tu es jetzt! Du schaffst es!«
    Sie bewegte sich. Der Tisch knarrte, ihr Kleid raschelte, sie stöhnte, keuchte, dann seufzte sie, und sie lag wieder ruhig. »Es … es geht nicht. Es tut mir so leid, Tom.«
    »Schon gut. Das macht nichts. Ruh dich aus. Mir fällt schon was ein, hörst du?«
    Aber was? Würde jemand nach ihnen suchen? Warum? Und wer sollte das sein? Huck oder Shipshewano, die eine Schlinge um den Hals hatten? Crittenden, der bestimmt vor dem Lynchmob aus St. Petersburg geflüchtet war?
    Toms Beine wurden taub und die Fühllosigkeit kroch in seinen Oberkörper. War das Dobbins’ Mittel? Das Zeug musste raus!
    Er rollte die Zunge zusammen und presste sie gegen seinen Gaumen. Als das nichts half, versuchte er sie zu schlucken. Augenblicklich musste er würgen, und etwas Galle schoss ihm die Kehle herauf, und er spuckte aus. Die Flüssigkeit rann ihm über das Kinn. Tom schloss die Augen.
    Denk nach! Denk nach, ermahnte er sich, doch er spürte nur dieses wunderbare, köstliche Gefühl, das seinen Körper heraufkroch wie eine wiederkehrende Brandung und das jedes Mal etwas mehr von ihm mitnahm und ihn in eine köstliche bleierne Dunkelheit hineinzog.
    Wir schlafen niemals.
    Wir schlafen niemals.
    Wir schlafen niemals .
    »Tom?« Ihre Stimme holte ihn zurück aus dem Dunkel.
    »Ja?«
    »Ich … hab immer auf dich gewartet, weißt du?«
    »Ja.«
    »Seit dem Tag, als du weggegangen bist, hab ich auf dich gewartet. Aber du bist nicht gekommen.«
    Tom schwieg.
    »Irgendwann konnte ich nicht mehr warten. Und Sid … Auch wenn er ganz anders ist … Er ist dir trotzdem ähnlich. Nicht sehr. Aber manchmal, wenn er etwas sagt oder wenn er sich die Haare aus der Stirn streicht, dann erinnert er mich an dich. Er war dir so ähnlich, dass ich manchmal denken konnte, du wärst bei mir. Wärst im selben Raum und ich könnte dich berühren, wenn ich die Hand ausstrecke.«
    Toms Hals schnürte sich zu. Seine Augen wurden feucht, und seine Stimme war brüchig. »Es tut mir so leid, Becky. Ich hätte nie weggehen dürfen. Es war ein Fehler.«
    »Ja, das war es. Ich liebe dich trotzdem.«
    »Ich liebe dich auch, Becky.«
    Stille senkte sich über den Raum.
    »Tom?«
    »Ja?«
    »Werden wir sterben?«
    Wieder Stille.
    Tom hörte ihren Atem. Er ging langsam, er war wie das Licht einer Lampe, die flackerte und ganz allmählich verlosch. »Ich weiß es nicht, Becky.« Er wusste es wohl, aber er brachte es nicht übers Herz, es zu sagen.
    »Schade. I-ich weiß nicht, wie lange ich noch wach bleibe, Tom. Ich … « Sie verstummte.
    Tom wartete einen Moment, und als sie nicht weitersprach und er spürte, wie die Taubheit seine Brust erfasste und ihn von allen Seiten langsam einhüllte und ihn aufzuzehren schien, schüttelte er sich. »Becky?«
    Nichts. Keine Antwort. Kein Atemgeräusch.
    »Becky, sag etwas! Bitte!«
    Stille.
    »Beeee-ckyyy!«
    Sie antwortete nicht. Tom heulte auf und schlug mit dem Hinterkopf auf das Holz.
    Bleib wach! Rede mit ihr!
    Bleib wach! Lass dir etwas einfallen!
    Bleib wach!
    Die Schmerzen hielten ihn wach, aber sie brachten ihn an den Abgrund einer Ohnmacht. Und dann war die Taubheit von seiner Brust in seinen Kopf gekrochen, und alles wurde mit einem Mal leicht und warm, und Bilder zogen an ihm vorüber. Eine weite grüne Wiese am Lovers’ Leap. Die Sonne blendete ihn. Becky in einem geblümten Kleid, mit dem der Wind spielte. Ihr Lachen. Sie hielten sich an den Händen, drehten sich im Kreis und ließen sich ins Gras fallen. Er sog ihren Geruch ein, seine Wange an ihrem Hals, und sie lachte, und ihr Haar kitzelte seine Haut. Es waren schöne Bilder. Tom ließ alle Schmerzen und alle Finsternis von sich abfallen und wälzte sich mit ihr auf der Wiese auf dem Lovers’ Leap, und er tauchte in sie ein und sie in ihn, und sie waren eins. Er würde hierbleiben. Hier, wo es keine Finsternis gab, sondern nur ihn und Becky in einer ewigen Umarmung ohne Angst und ohne Zorn. Ohne Schmerz und ohne Tod.
    Dann spürte er die Schläge auf seine Wange. Und die Stimme aus einem anderen Leben, die sagte: »Er darf nicht sterben. Er schuldet uns einen Haufen Geld, machen Sie etwas,

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