Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Doktor!«
Ein beißender Geruch stach Tom in die Nase, und er zuckte unwillig, weil die Bilder von Becky und ihm auf dem Lovers’ Leap langsam verblassten. Er blinzelte, und als er die Augen schließlich öffnete, blickte er in die von einer Lampe beschienenen Gesichter eines indianischen Jungen und eines schwarzen Mannes.
~~~
Dieser Mann darf nicht entkommen.
Oh nein, Sir. Das wird er nicht.
Aber wo war dieser verdammte Bastard?
Tom lief durch die Straßen der Stadt und schob sich durch das Gewühl der Menschen. Cooper hatte ihm nach dem Riechsalz etwas Morphium gegeben, und Tom spürte die wohltuende Wirkung. Seine Schmerzen waren fast verschwunden. Dennoch fühlte er sich nicht mehr schläfrig. Wie könnte man an so einem Tag auch schläfrig sein? Die ganze Stadt war auf den Beinen und brummte wie ein Bienenstock. Dutzende Familien aus der Umgebung waren nach St. Petersburg gekommen, um sich die Wahl zum Sheriff und den Jahrmarkt und das Sommerfest nicht entgehen zu lassen. Es wurde getrunken und gelacht, und Tom war schon an zwei Schlägereien vorbeigerannt.
Saul Jones, klein, gedrungen, rothaarig und schon reichlich angetrunken, stand auf einem Podest in der Main Street und schwang vor einem johlenden Publikum eine Rede, während eine Blaskapelle den Broadway hinuntermarschierte und Garryowen schmetterte, dass die Scheiben der Geschäfte zitterten.
Die Straßen wimmelten von Menschen, die an den Ständen mit gebackenen Schweinekrusten, gepökeltem Schweinefleisch, Pfannkuchen, warmem Maisbrot und Zuckerkringeln standen und sich die fettigen Finger ableckten. Aus den Garküchen stiegen unablässig Rauchwolken in den strahlend blauen Himmel, und irgendwo knallte ein Schuss.
Tom schob einen Hutverkäufer zur Seite, der einen Stapel Strohhüte auf dem Arm balancierte, und drängte sich zwischen zwei Bauern hindurch, die über den Preis eines Ferkels stritten. Über die Köpfe der Menge hinweg entdeckte er Crittenden und dessen Lieutenants zu Pferde. Der Major suchte die Menge mit den Augen ab. Als er Tom entdeckte, legte er die Hand an den Mund, um den Lärm zu übertönen. »Wir suchen bei den Mietställen!«
Tom hob eine Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und rannte weiter. Der mutige Major. Als der Lynchmob ihn gestern vom Friedhof vertrieben hatte, war er eilends in das Büro des Sheriffs geritten, hatte einen verstörten Billy Fisher und Richter Thatcher angetroffen, die sich fragten, wo in aller Welt Joe Harper steckte. Mit dem Waffenarsenal des Sheriffbüros und mit Thatchers Autorität waren sie zu fünft zurück zu den Platanen beim Friedhof geritten und hatten in die Menge geschossen. Huck und Shipshewano hatten die Schlinge bereits um den Hals gehabt, und davor hatten die Männer sie furchtbar zugerichtet, um sich die Zeit zu vertreiben, während sie auf die Rückkehr von Jim Hollis warteten. In letzter Sekunde hatten Crittenden und Thatcher die Meute daran hindern können, Huck und Shipshewano zu hängen. Dann hatte Thatcher den schwer verletzten Joe Harper auf der Ladefläche eines Wagens beim Friedhof entdeckt.
Joe. Wie konnte man jemanden so zurichten?
Und wo steckte der verdammte Bastard, der das getan hatte, jetzt?
Tom bog in die First Street ein und blieb einen Moment lang stehen, um Atem zu schöpfen und die Gesichter in der Menge zu mustern. Ein Veteran mit nur einem Auge und einem fransigen Schnurrbart. Eine betrunkene Hure aus dem »Madame Pauline’s«. Ein junger Gentleman mit gerötetem Gesicht. Ein alter Farmer mit Zahnlücken.
Kein brauner Mantel. Keine Reisetasche. Kein Bowlerhut. Und kein großer Koffer.
Es musste der große Reisekoffer mit den Messingschnallen sein, den Tom in der Höhle gesehen hatte, dort, wo er von Dobbins niedergeschlagen worden war. Darin transportierte er sie. Ganz sicher.
Es war bereits Mittagszeit. Wie lange hatte er in der Höhle geschlafen? Eine Minute? Zehn? Eine Stunde? Wie groß war Dobbins’ Vorsprung? War er überhaupt noch in der Stadt?
Tom hatte keine Antwort auf diese Fragen. Noch immer kam ihm das Auftauchen von Pepinawah und Dr. Cooper in der Höhle vor gut einer Stunde vor wie ein Traum. Als Pepinawah ihm die Fesseln gelöst hatte und Coopers Riechsalz bei ihm wirkte, hatte er sich so schlagartig aufgerichtet, dass er beinahe vom Tisch gefallen wäre.
Sein erster Blick hatte Becky gegolten. Sie lag auf dem Tisch, hatte einen Verband um den Arm. Cooper schien sich bereits um sie gekümmert zu haben. Ihre Augen waren
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