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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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wusste, habe ich ihn ermutigt. Ich habe ihm erzählt, dass Hattie ihn mag, und ihn gelegentlich zu mir eingeladen. Joe ist sofort darauf angesprungen, aber bei Hattie haben meine Ermutigungen nichts geholfen. Irgendwann habe ich die Geduld verloren. Weißt du, ich bin kein Heiliger, das gebe ich gerne zu.«
    Er lächelte sanftmütig. »Ich hab ihr einen starken Schlaftrunk verabreicht und ihr dann meinen Samen geschenkt. Mein Kind wächst in ihr heran, und wenn alles gutgeht, wird es ein weißes Kind sein. Dann wird sie erst recht an eine unbefleckte Empfängnis glauben.«
    Dobbins lachte meckernd. In Toms Kopf zuckte das Bild der unterstrichenen Stelle in Hatties Bibel auf. Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich von keinem Manne weiß? Er schüttelte sich, als er sah, wie Becky den Deckel des Glases umfasste und die Spangen zusammendrückte, die den Deckel auf dem Gefäß hielten.
    Dobbins hörte nicht, wie die Spange sich löste und wie Becky den Deckel abnahm. Er ging zu seiner Reisetasche und packte einen Tiegel ein, während er weitersprach. »Hattie hat mir das später alles erzählt. Das dumme Ding bekam Angst, als ihre Monatsblutung ausgeblieben ist und ihre Brüste und der Bauch größer wurden. Sie vertraute sich deiner Tante an, und die hat versprochen, ihr zu helfen. Als Hattie den ganzen Samstagmorgen so nervös war, habe ich sie beobachtet. Sie hat heimlich ein paar von meinen alten Laken eingepackt und mir gesagt, sie wollte zu ihren Leuten, aber ich habe ihr nicht geglaubt und bin ihr gefolgt. Tatsächlich ist sie zuerst dorthin, wo die Nigger wohnen, aber dann ist sie zu deiner Tante gegangen, Tom. Da wusste ich, dass ich Schlimmeres verhindern musste. Ich habe gesehen, wie Polly die Vorhänge zugezogen und die Tür verriegelt hat, als Hattie im Haus war, und mir war klar, dass ich schnell sein musste. Und ich war schnell. Es tut mir wirklich leid um Polly, Tom. Aber du verstehst sicher, in was für einer prekären Lage ich mich befand.«
    Dobbins drehte sich um, und Becky verbarg den gläsernen Deckel in der Hand. Würde Dobbins bemerken, dass das Glas nun offen war? Nahm er den fauligen Geruch wahr, der dem Gefäß entströmte?
    Tom fauchte ihn an. »Und dafür musste sie sterben? Weil sie Ihr ›Experiment‹ beendet hätte?«
    Dobbins setzte die Brille ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er schüttelte traurig den Kopf. »Ja. Und weil sie irgendwie herausgefunden hat, was ich tue, und in ihrer kleinlichen Beschränktheit nicht verstanden hat, dass ich allen nur einen Dienst erweise.«
    Mach, dass er weiterredet , schoss es Tom durch den Kopf. Mach einfach, dass er weiterredet!
    »Wie hat sie es herausgefunden?«
    Dobbins drehte sich um, schloss das Etui mit dem Operationsbesteck und legte es in die Tasche. Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau. Ich nehme an, weil wir zu oft die gleiche Kundschaft hatten. Gracie Miller hatte sich an sie gewandt, weil sie schwanger war von diesem Gemischtwarenhändler in Palmyra. Polly wollte bei ihr eine Abtreibung vornehmen, aber ich hatte in einem Gespräch mit Gracie angedeutet, dass es auch eine andere Möglichkeit gibt, wenn man ein Kind nicht haben will. Ausgerechnet die Rothäute wissen über diese Dinge wesentlich besser Bescheid als unsere Ärzte, musst du wissen. Sie benutzen seit Jahrhunderten Anemone multifia , um Abtreibungen vorzunehmen. Radix Dioscorea deltoides , die Yamswurzel, verhindert, dass man überhaupt erst schwanger wird. Das Gleiche gilt für Lithospermum ruderale und für die Wurzeln der Apocynum cannabinum . Ich fürchte, meine Andeutungen haben Gracie so verunsichert, dass sie zu deiner Tante gegangen ist und ihr von unserem Gespräch erzählt hat. Das habe ich leider erst erfahren, als ich Gracie mitgenommen habe, um sie von meinen Methoden zu überzeugen. Ich schätze, als Gracie verschwunden ist, ist deine Tante zum ersten Mal auf mich aufmerksam geworden.«
    Tom hielt den Atem an, als Becky den gläsernen Deckel schräg auf den Tisch stellte. Er hustete laut auf und übertönte damit das Knacken, als sie den Deckel zerbrach. Dann schrie er Dobbins an: »Das werden Sie büßen, Dobbins! Man wird Sie hängen, das schwöre ich Ihnen!«
    Dobbins drehte sich um. Täuschte Tom sich, oder hatte sein Blick geflackert? Hatte er einen Lidschlag lang auf Becky hinuntergeblickt? Aus den Augenwinkeln nahm Tom wahr, wie Becky die Scherbe in der Hand verbarg, sie drückte so fest zu, dass

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