Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
Vom Netzwerk:
die Adern an ihrem Handrücken hervortraten und Tom Angst hatte, dass die scharfe Kante ihr in die Handfläche schneiden könnte.
    Dobbins lächelte Tom traurig an, dann drehte er sich wieder um und schloss die Reisetasche. »Nein. Das wird man nicht, Tom. Und ich werde für nichts büßen, weil ich nicht mehr hier sein werde.« Er löschte die Lampe über dem Schreibtisch, und in der Höhle wurde es merklich dunkler. »Ich werde St. Petersburg verlassen, und niemand wird mich aufhalten. Joe Harper lebt ja leider noch, wie Becky mir berichtet hat. Und dann gibt es noch diese Rothaut, die mit dir unterwegs war, und vielleicht gelingt es dem Kerl ja, Harper zu deinem Niggerdoktor zu bringen, und Harper überlebt und kann jedem erzählen, wer ihn niedergeschlagen hat. Außerdem ist da noch dieser Sonderermittler, der sich fragen wird, wo du geblieben bist. Das alles sieht mir ganz danach aus, als würde es für mich in St. Petersburg nur noch Ärger und Verdruss geben. Und ganz ehrlich: Ich sehne mich schon eine Weile danach, meine Fähigkeiten in einer größeren Stadt zu erproben. Dort wird man auch weniger Fragen stellen, wenn unwertes Leben von der Straße verschwindet.«
    Dobbins nahm die blonde Perücke ab, öffnete eine Truhe neben dem Tisch und setzte eine Perücke mit kurzem braunen Haar auf. Als er seine eigenen grauen Fransen unter die Perücke stopfte, nickte Tom Becky zu. Sie krümmte ihr Handgelenk und begann, mit der Scherbe an dem Ledergurt zu scheuern, der ihren Unterarm an der Tischplatte fixierte. Es ging nur unendlich langsam, aber sie bekam einen Riss hinein.
    »Wo wollen Sie hin?«, fragte Tom, damit Dobbins weiterredete.
    Dobbins drehte sich nicht um. Er zog ein Manilahalstuch aus der Jackentasche, band es um und holte aus der Truhe einen falschen Bart. Er öffnete seine Tasche noch einmal und nahm den Tiegel wieder heraus. Behutsam tunkte er den Finger in das Töpfchen und strich sich eine Paste um Mund und Kinn. Dann klebte er den Bart an und prüfte mit einem kleinen Handspiegel, ob er richtig saß. »Nach Kalifornien, Tom«, sagte er. »San Francisco. Viele Schlitzaugen sollen dort leben, sagt man. Sehr interessant für mich.«
    Der Lederriemen war schon zur Hälfte eingerissen. Beckys Handgelenk zitterte, aber sie schnitt tapfer weiter.
    Rede! Er soll reden!
    »Warum haben Sie mich nicht gleich hergeschafft, als Sie die Gelegenheit dazu hatten? Warum sollte mich der Zug überfahren?«
    »Na, weil das nach einer dumpfen Rache ausgesehen hätte, zu der zwei so einfältige Gesellen wie Dale und Jeb fähig sind. Und außerdem, weil ich dich mag, Tom. Ich hatte dir einen kurzen, schmerzlosen Tod zugedacht, weil du ein bisschen anders bist. Du warst zwar genauso ein dummer Schüler wie alle anderen und dazu noch frech und ungezogen. Es sah ganz so aus, als würdest du deine minderwertigen Erbanlagen hier in St. Petersburg lassen und damit gute Erbanlagen wie die der Thatchers schwächen. Und doch warst du anders als der Rest. Du warst einer dieser Glücksfälle der Natur, die man eine positive Mutation nennen mag, genau wie ich. Du hast St. Petersburg verlassen und aus dem wenigen, was du hast, etwas gemacht. Bist sogar in das Umfeld eines Präsidenten gelangt. Ich mag dich. Wirklich. Doch dann bist du zu einem Problem geworden, und als ich das andere Problem – Huck, dem es allmählich besser zu gehen schien, wo er doch so einen guten Sündenbock abgegeben hätte –, als ich dieses Problem gerade gelöst habe, da bist du mir wieder in die Quere gekommen, Tom. Aber das ist jetzt vorbei. Ich mag dich und Becky zwar sehr, aber …«
    Dobbins warf den Tiegel und den Handspiegel wieder in die Reisetasche und trat von der Truhe weg. Mit raschen Schritten kam er auf Beckys Tisch zu, packte Beckys Handgelenk und riss ihr die Scherbe aus der Hand.
    Becky schrie auf, Toms Herz setzte einen Schlag aus.
    Dobbins nahm die Scherbe und hielt sie an Beckys Auge. »Aber das werdet ihr hübsch bleiben lassen, hörst du, Rebecca Thatcher?« Er versetzte ihr mit dem Handrücken einen Schlag ins Gesicht, und sie schrie auf.
    Tom bäumte sich auf in seinen Fesseln. Er brüllte. »Lass sie! Lass sie verdammt noch mal in Ruhe, du Schwein!«
    Dobbins schwitzte, er presste die Lippen aufeinander und lief rot an, als wäre er geohrfeigt worden und nicht Becky. »Das war deine Idee, stimmt’s, Tom? Das hättest du nicht tun sollen! Das war sehr ungezogen von dir. Du weißt, dass ich das nicht mag!«
    Becky

Weitere Kostenlose Bücher