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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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der auf das Schiff wollte. Die Ministrel-Gruppe, in gestreiften Anzügen und mit Strohhüten, ging unter dem lauten Applaus der Umstehenden von Bord. Dahinter spuckte das Schiff drei Dutzend neue Gäste aus, und Toms Augen wanderten suchend über die Menschenmassen am Ufer. Ein Tourist mit Monokel und einer lächerlichen Schirmmütze aus grünem Tweed, Matrosen, Stauer, fröhliche Gesichter überall.
    Dann war die Landungsbrücke frei, und die ersten Fahrgäste aus St. Petersburg bestiegen das Schiff. Frauen, Kinder, junge Männer. Dobbins war nicht dabei. Hatte er seine Maskierung verändert? Tom betrachtete die Gepäckstücke, die die Schwarzen an Bord schleppten. Säcke, Taschen, Kisten. Kein Koffer mit Messingschnallen.
    Verdammt! Verdammt! Verdammt!
    Plötzlich entdeckte er ein bekanntes Gesicht in der Menge. Jim! Er trug Baumwollballen zum Schiff und lud sie auf einen Stapel auf dem Vorderdeck ab. Tom hob die Hand. »Jim! Jim, warte!«
    Der Schwarze trabte von der Landungsbrücke und wischte sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn. Er grinste Tom an, als der sich zu ihm durchgekämpft hatte, und musterte dann dessen merkwürdigen Aufzug. »Tom! Was hast ’n du für Sachen an? Bist du unter die Fallensteller gegangen? Hab gehört, man hat diesen Dale gefunden. Festgeschnallt auf ’ner Brettersäge. Du weißt nicht zufällig, wie er dorthin gekommen ist?«
    Tom packte den Freund an den Schultern. »Jim, ich hab keine Zeit zu plaudern. Hast du Dobbins gesehen?«
    »Dobbins? Den Lehrer?«
    »Ja. Oder ’nen Mann, der ihm ähnlich sieht. Mit Kinnbart, braunem Mantel und ’nem Hut?«
    Jim schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Tom.« Er deutete mit dem Kinn auf die Baumwollsäcke. »Ich muss arbeiten. Kubish zieht mir das Fell über die Ohren, wenn ich rumsteh und Leute anglotze. Kann sein, dass er hier ist, würd mich aber wundern.«
    »Warum?«
    »Hab Dobbins noch nie am Anleger gesehen. Ich glaub, er macht sich nichts aus Dampfschiffen.«
    Tom blinzelte.
    Verdammte Dampfschiffe. Mir wird jedes Mal schlecht, wenn ich auf einem von diesen schaukelnden Pötten bin.
    Das hatte Dobbins gesagt, als Tom zum ersten Mal bei ihm gewesen war. Aber wenn er nicht beim Dampfschiff war, wo steckte er dann? Es gab auch keinen Mietstall beim Anleger. Und doch war Dobbins ganz in der Nähe gewesen!
    Toms Augen wanderten wieder über die Menge.
    Wo bist du? Wo zum Teufel steckst du?
    Das Gellen einer Pfeife drang durch das Gelächter der Menge zu ihm, und Toms Blick schoss über die Dächer der Häuser an der Main Street. Eine Dampfwolke stieg über »Kettering’s Hotel« zum makellosen Himmel auf.
    Es gab noch eine Möglichkeit, mit einem schweren Koffer die Stadt zu verlassen.
    ~~~
    Tom hetzte an den Schweinepferchen von Ripleys Farm vorbei. Er war den Trampelpfad am Ufer entlanggerannt, um die Menschmassen auf der Main Street zu meiden.
    Mach, dass sie noch nicht losfahren! Bitte!
    Er sprang über einen Zaun und raste an endlosen Bretterwänden vorbei, hinter denen die Schweine eingepfercht waren. Zwei Farmersburschen, die eine Raddeichsel schleppten, wichen erschrocken aus, als Tom sie anschrie: »Aus dem Weg! Aus dem Weg!«
    Seine Stiefel schmatzten im Matsch. Er sprang über ein Gatter, und plötzlich waren die Schweine überall und quiekten schrill und panisch, als Tom zwischen ihnen hindurchhetzte. Er hob den Kopf, als wieder ein Pfiff ertönte.
    Hinter einer schier endlosen Menge von Schweinerücken tauchte die Lokomotive auf. »B&O 4 - 4 - 0 « stand in großen weißen Buchstaben auf dem mächtigen schwarzen Kessel. Langsam, fast unmerklich glitt sie aus dem Bahnhof heraus. Die Schubstangen bewegten sich ächzend vor und zurück, und die Räder drehten sich zunächst widerstrebend, dann schneller. Wieder schoss eine Dampfwolke aus dem Dom über dem Kessel zum Himmel, und der rote Kuhfänger glitt unaufhaltsam vorwärts.
    Tom wich den Schweinen aus, stolperte und wäre um ein Haar ausgerutscht. Er fand Halt an einem Schweinerücken und rannte weiter. Die aufgeregten Tiere stoben auseinander, bildeten eine Gasse für ihn. Die ersten Abteilwagen zogen an ihm vorbei. Bis zum Ende des Pferchs, dort, wo die Schienen verliefen, waren es noch dreißig Schritt.
    Toms Herz hämmerte gegen das Brustbein, und er versuchte dennoch, schneller zu werden. Die Reisenden blickten aus dem Fenster der Abteilwagen, manche sahen ihn und winkten. Als Tom noch gut zwanzig Schritt vom Zaun an den Gleisen entfernt war, kamen die

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