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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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willst. Ist da was dran?«
    Tom erhaschte einen Blick auf eine Halskette, die zwischen Beckys Brüsten verschwand, dann schüttelte er sich, als ihr tadelnder Blick ihn traf. »Möchte bloß mal wissen, woher du das so schnell weißt«, sagte er rasch.
    »Ich bin eben eine gute Journalistin und hab so meine Quellen. Also? Was ist im Schlachthof passiert?«
    Tom sah sie an und schwieg. Aufmunternd zog Becky die Augenbrauen hoch.
    Tom seufzte. »Ich hab ihn nicht angeschossen. Ich hatte ihn schon verhaftet, mit Handschellen und allem Drum und Dran. Da hat er nach meiner Waffe gegriffen und abgedrückt.«
    Becky zog die Stirn kraus. »Er hat … sich selbst erschossen, meinst du? Aber warum?«
    Tom zuckte mit den Schultern und ging wieder weiter. »Was weiß ich? Er hat’s jedenfalls getan. So, jetzt weißt du’s, und damit ist meine Geschichte auch schon aus.«
    Becky kritzelte etwas in ihr Notizbuch, schüttelte den Kopf und bemühte sich, mit Tom Schritt zu halten. »Aber das ergibt doch keinen Sinn. Warum sollte er sich erschießen? Das macht doch nur Sinn, wenn er –«
    »Ja, wenn er schuldig ist und dem Henker zuvorkommen will. Genau. Aber er ist nicht schuldig.«
    »Was macht dich da so sicher?«
    Tom wedelte unbestimmt mit den Händen in der Luft. »Er … Es passt einfach nicht! Polly war nicht reich; für einen Überfall gibt es weitaus lohnendere Opfer. Niemand hat wirklich gesehen, was passiert ist, Huck hat nie wirklich zugegeben, dass er es getan hat, und … und –«
    »Und du willst einfach nicht, dass es Huck war, habe ich recht?«
    Tom sah sie aus rot geränderten Augen an. Er dachte an den Christophorus-Anhänger und an die Bibel, die bei Hucks Sachen gewesen waren. Er nickte düster.
    »Ja. Und wahrscheinlich liege ich vollkommen falsch.«
    Er schloss die Augen und fuhr sich durch die Haare. Becky wollte ihm gerade beschwichtigend eine Hand auf den Arm legen, als Tom die Augen wieder aufschlug und mit dem Zeigefinger auf ihr Notizbuch tippte. »Aber das schreibst du nicht, hast du mich verstanden? Dann schreib lieber, ich habe auf ihn geschossen!«
    Becky verschränkte die Arme vor der Brust, und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Aha! Ich soll also doch nicht die Wahrheit schreiben, Tom Sawyer? So denkst du dir das also? Das kannst du vergessen.«
    Wütend wandte Tom sich ab. »Vergiss es. Ihr schreibt doch eh, was ihr wollt! Hat Lincoln auch gesagt.«
    Inzwischen hatten sie die ersten Hütten auf dem Hügel erreicht. Linker Hand saß ein älterer Schwarzer auf einer grob zusammengenagelten Veranda vor einer windschiefen Baracke und spielte Mundharmonika. Er hatte eine zerschlissene graue Leinenhose an und ein grobes Baumwollhemd, das einstmals blau gewesen sein mochte. Hühner pickten im Staub der Straße und stoben auseinander, als Tom vorbeistapfte und Becky ihm zeternd folgte. Ein paar Schweine wühlten im Dreck. Der Schwarze setzte die Mundharmonika ab, als sie an ihm vorbeigingen.
    »Wer, bitte schön, ist denn ›Ihr‹? Ich warne dich: Schmeiß mich ja nicht in einen Topf mit irgendwelchen anderen Zeitungen, Tom! Und wenn du deine eigene Wahrheit nicht verträgst, dann ist das dein Problem und nicht meins, hörst du?«
    Tom drehte sich um und hob drohend den Zeigefinger in ihre Richtung. »Wenn du … Du wirst … dann … Ach!« Zornig winkte er ab, drehte sich wieder um und stapfte weiter an den Hütten vorbei. Eine junge schwarze Frau hielt inne und schaute sie über die Wäscheleine hinweg neugierig an. Ein kaum zweijähriges Kind mit einer rotzverschmierten Nase klammerte sich erschrocken an ihre Schürze.
    Becky ließ sich von Toms Geste nicht abwimmeln. Sie raffte ihre Rockschöße etwas höher und rief ihm hinterher: »Und was ist mit deiner Kandidatur zum Sheriff? Ist das die Wahrheit, oder ist das auch wieder ein bisschen geflunkert von dir, und ich soll besser nicht darüber schreiben?«
    Tom blieb vor einer Hütte stehen, aus der scheppernd Klaviermusik drang, und wandte sich zornig um. Wieder hob er den Zeigefinger drohend in ihre Richtung. »Tom Sawyer ›flunkert‹ nicht, Rebecca Thatcher! Das war vielleicht einmal, aber das ist vorbei! Und wenn du es genau wissen willst: Ja! Ich kandidiere für den Posten des Sheriffs, weil Joe Harper ein Volltrottel ist, der einen Hühnerdieb nicht von einem Raddampfer unterscheiden kann und der seinen Kopf nur hat, damit es ihm nicht in den Hals regnet! Und das kannst du auch genau so in deiner Zeitung schreiben, wenn

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