Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
deutlich, wie eine dicke Schweißperle von seiner Stirn über die Schläfe zum Kinn rann. Der Mann hatte Angst. Wovor? Das Stöhnen im Nebenzimmer wurde lauter. Was ging da vor? Wurde da gevögelt? Wurde jemand festgehalten? Hollis schnupperte in Richtung des Vorhangs und begann zu knurren.
Tom stützte die Arme auf die Theke und schlug einen forscheren Ton an. »Ist mir egal, wo dein Problem grad ist, Kumpel. Aber ich hab einen Freund, der steckt in Schwierigkeiten und braucht den Doktor. Und zwar sofort. Und wenn du mir nicht gleich sagst, wo ich ihn finden kann, dann zieh ich dich ein bisschen an den Ohren durch deinen Laden hier und –«
Ein gellender Schrei unterbrach ihn. Hinter dem Vorhang brüllte jemand wie um sein Leben, laut, markerschütternd. Der Wirt blickte erschrocken zu Boden, Tom überlegte nicht lange, zückte den LeMat-Revolver, den er Joe Harper noch nicht zurückgegeben hatte, riss den Vorhang zur Seite und stürmte mit vorgehaltener Waffe in das Nachbarzimmer.
Und erstarrte.
Er blickte direkt zwischen die blutbeschmierten Schenkel einer dicken nackten schwarzen Frau, die rücklings auf einem Tisch lag und weiterhin aus Leibeskräften brüllte. Doktor Cooper stand in einem weißen Kittel zwischen ihren Beinen und zog an einer kleinen braunen Kugel, die direkt aus ihrer blutigen Scheide zu wachsen schien. Aus Schüsseln stieg Wasserdampf zur Decke und vernebelte die Sicht. Eine junge Frau, die weiße Leinentücher hielt, blickte erschrocken von Tom zu dem Revolver und dann zum Doktor. Die dicke Frau auf dem Tisch hielt plötzlich mit dem Schreien inne, verwirrt starrte auch sie den weißen Mann mit der Waffe an.
Cooper drehte sich um, entdeckte Tom und seufzte: »Wenn Sie nicht bei einem Dammschnitt assistieren können, Mister, sollten Sie besser draußen warten.«
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Der kleine Joseph brüllte aus Leibeskräften, und sein Vater, der große Joseph, der hinter der Theke stand, war voll des Glücks. Stolz hielt er seinen Sohn in einem blutbefleckten Leinentuch und zeigte ihn herum, während Doktor Cooper noch damit beschäftigt war, den Dammschnitt von Josephs Frau zu nähen. In der Kneipe herrschte laute Ausgelassenheit, das Piano spielte Great Day und die Männer sangen aus vollem Hals: »Great day, de righteous marchin’ Great day, God’s gwine to build up Zion’s walls, Chariot rode on de mountain top …«
Der große Joseph grinste von einem Ohr zum anderen und prostete Tom zu, der an einem der Tische saß und ebenfalls einen Bitterschnaps trank, während Hollis zu seinen Füßen an einem Knochen aus Josephs Abfällen nagte.
»Danke für die Lokalrunde, Mister!«
Tom hob sein Glas und nickte freundlich zurück. Eine Lokalrunde war das Mindeste, was er hatte tun können, um seinen unrühmlichen Auftritt vergessen zu machen. Der Anblick hatte ihn schockiert, Tom war noch nie bei einer Geburt dabei gewesen, sah man einmal von einem Wurf Ferkel ab, den er als Zehnjähriger zusammen mit Huck im Pferch des Walisers beobachtet hatte.
Huck.
Und dann hatte er auch noch eine große Klappe gehabt und Becky gesagt, sie solle schreiben, dass er für den Posten des Sheriffs kandidierte und dass Joe Harper ein Volltrottel war. Herrgott noch mal! Warum passierte das immer wieder? Warum konnte er nicht einfach mal die Klappe halten? Tom setzte das Schnapsglas ab und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die müden Augen, als eine Stimme ihn aufmerken ließ.
»Was kann ich für Sie tun, Mister?«
Hiram Cooper war an Toms Tisch getreten, wischte sich mit einem stockfleckigen Lumpen die Hände trocken und krempelte die Ärmelaufschläge hinunter.
Tom nickte zu einem freien Stuhl und hob sein Glas. »Wollen Sie auch einen?«
Cooper setzte sich und schüttelte den Kopf. Der schlanke Mann mit den kurzen, eng am Schädel anliegenden Haaren hatte eine tiefdunkle Hautfarbe, so wie nasses Ebenholz. Kleine schlaue Augen blitzten aus einem freundlichen runden Gesicht hervor. Hiram lächelte. »Ich trinke nicht. Nicht mehr.«
Tom nickte. »Auch gut. Tut mir leid wegen …« Tom nickte in Richtung des Vorhangs.
Hiram winkte ab. »Sie hat’s überlebt, und der kleine Joseph kann sich nicht früh genug daran gewöhnen, dass ein weißer Mann mit einer Waffe vor ihm steht.«
Cooper grinste verschmitzt, und Tom kam nicht umhin, den Doktor zu mögen. Er streckte die Hand aus. »Tom Sawyer ist mein Name. Vielen Dank auch für Ihre Hilfe im Saloon gestern. Vor dem Saloon, meine ich. Mit
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