Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
und ganz ruhig. »So hätt ich’s jetzt nicht gesagt, Joe. Aber im Grunde bringst du’s damit auf den Punkt.«
Joe Harpers Gesicht hatte die Farbe eines gekochten Flusskrebses angenommen, er ballte die Fäuste, und Tom rechnete schon damit, dass der Sheriff auf ihn losgehen würde. Aber diesmal war es Jim Hollis, der zu Toms Überraschung eingriff. Er packte Joe am Arm und nickte in eine Ecke, in der ein paar Lumpen lagen. »Zeig’s ihm einfach, Joe. Zeig dem Schlaumeier aus der großen Stadt, was wir bei seinem Huck gefunden haben. Er hat auch eins, siehst du?«
Hollis deutete auf Toms Hand, in der dieser immer noch das Taschenmesser und den Talisman hielt.
»Nun gut.« Joe Harper atmete tief durch, dann sagte er über die Schulter zu Jim, ohne den Blick von Tom zu wenden: »Hol’s her.«
Jim beugte sich zu dem Bündel hinab.
Tom erkannte sofort Hucks speckige Wildlederjacke, die Dobbins ihm wohl ausgezogen hatte, um die Schusswunde zu behandeln. Jim zog eine Maiskolbenpfeife heraus und dann noch etwas. Er gab es dem Sheriff, der es wiederum einfach an Tom weiterreichte. »Das haben wir bei ihm gefunden, Tom. Erkennst du die Sachen?«
Tom schluckte. Joe hatte ihm eine Bibel und eine Kette in die Hand gedrückt. An der Kette hing der gleiche Anhänger, den er selbst als Talisman besaß. Sankt Christophorus. Er sah es immer noch vor sich, wie Tante Polly einem Hausierer an der Tür drei der kleinen Silberanhänger abgekauft hatte. Tom war damals sechs Jahre alt gewesen, vielleicht sieben. Polly war sehr fromm und hatte immer ein gutes Wort für die armen Hausierer, die für ein paar Cent von Tür zu Tür zogen. Einen der Anhänger hatte sie Tom geschenkt, den anderen Sid. Den dritten hatte sie behalten. »Er hat unseren Herrn Jesus als Kind über einen Fluss getragen. Er war sehr stark. Und sein Bild schützt einen vor einem plötzlichen Tod, vergesst das nie!«, hatte sie gesagt, als sie Sid und ihm die Kette um den Hals legte. Irgendwann war Toms Kette gerissen, weshalb er den Anhänger nun in der Tasche mit sich herumtrug. Polly hatte ihre eigene Kette niemals abgelegt. Warum hätte sie sie Huck geben sollen? Und die Bibel hatte Tom gehört. Die hatte er sich als Junge in der Sonntagsschule durch geschickte Tauschgeschäfte erschwindelt, um vor Becky als guter Schüler dazustehen. Warum sollte Polly sie Huck geben? Huck konnte kaum lesen und war zudem als Heide aufgewachsen.
Nicht Huck! Bitte nicht!
Tom hatte das Gefühl, als hätte jemand ihm einen Tritt in den Magen verpasst.
Joe riss ihn aus seinen Gedanken. »Glaubst du immer noch, dass er unschuldig ist, Tom? Glaubst du das? Hast du Polly je ohne das Ding gesehen?« Er schien ganz ruhig zu sein, nichts deutete auf seinen Ausbruch von gerade eben hin. Er beugte sich vor, dicht an Toms Ohr, flüsterte fast. »Komm mir nicht in die Quere, hörst du? Ich habe diesen Fall gelöst. Und ich kann niemanden brauchen, der in St. Petersburg herumschnüffelt und so tut, als käme der Sheriff dieser Stadt nicht allein klar. Du tust dir und uns allen einen großen Gefallen, wenn du schleunigst von hier verschwindest, hast du mich verstanden, Tom?«
Tom nickte. Schweigend trat er an das vergitterte Fenster, von dem aus man einen Blick auf den gewaltigen Strom hatte, der sich hinter ein paar Hütten am Stadtrand bis zum Horizont erstreckte wie ein wogendes braunes Feld.
»Es ist gut, wieder in St. Petersburg zu sein, Joe«, sagte Tom versonnen. »Fühlt sich gut an. Hätte nicht gedacht, dass es so etwas wie Heimweh gibt, als ich weggegangen bin. In Washington würden sie vermutlich tatsächlich sagen, es ist ein Kaff voller Hinterwäldler, aber mir … mir gefällt’s hier!« Er deutete vage aus dem Fenster. »Doch, doch. Der Mississippi mit den Dampfschiffen und den Flößen, die grünen Hügel, die Luft …«
Tom drehte sich um, wies auf Joe und Hollis. »Die Menschen hier sind nett und aufgeschlossen. Und du hast recht, Joe: Sie haben einen Sheriff verdient, der ihnen ein Leben in Sicherheit und Ruhe ermöglicht. Der ihre Häuser schützt, ihren Besitz, ihre Lieben. Aber vielleicht …« Tom trat einen Schritt näher auf Joe zu, in dessen Gesicht nichts als schiere Ratlosigkeit stand. Er hob den Finger und tippte Joe an die Brust. »Aber vielleicht bist das ja nicht du, Joe? Vielleicht ist das ja jemand anders? In ein paar Tagen ist die Wahl, oder? Wer weiß? Vielleicht gefällt es mir ja so gut in St. Petersburg, dass ich gegen dich antrete, Joe?
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