Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Schrank. Hollis trottete zum Schrank und versuchte, mit den Pfoten nach dem Fleisch zu angeln. Tom griff zum Tischtuch und wischte sich den Mund ab, wofür er einen tadelnden Blick von Becky erntete, woraufhin er entschuldigend grinste.
Sid wartete noch immer auf Toms Antwort, und dass sie nicht kam und Tom stattdessen Becky angrinste, machte ihn fuchsteufelswild. Er sprang auf, und in seinen Mundwinkeln war Speichel, als er Tom laut anbellte. »Du lässt dich hier zehn Jahre nicht blicken, kümmerst dich einen verdammten Dreck um Tante Polly oder um uns oder um sonst was, und dann kommst du zurück, stellst deinen Koffer hier rein und glaubst, du kannst mich einfach so über unser Land und über den Mord an Polly belehren, was, Thomas?«
Sid atmete heftig, und Becky führte erschrocken die Hand zum Mund. Es war wieder still in der Wohnküche, Hollis hatte den Kopf eingezogen und schmiegte sich ängstlich an Toms Bein. Tom blinzelte, dann zuckte er mit den Schultern und sagte schlicht: »Ja.«
Sid öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, doch da kam nichts. Er blieb einfach stehen, mit dem Zeigefinger deutete er noch immer auf Tom. Dann zitterte Sids Kinn, kraftlos sank der ausgestreckte Arm hinunter, Sid ließ sich auf den Stuhl fallen, vergrub den Kopf in den Händen und weinte.
Tom erschrak. Was war passiert? Eben hatten sie noch so schön gestritten, und jetzt schluchzte Sid. Becky legte Sid tröstend die Hand auf den Rücken und bedachte Tom mit einem anklagenden Blick. Tom schüttelte den Kopf, sah Becky fragend an, und sie verdrehte die Augen und formte stumm: »Wegen Tante Polly«, und jetzt sagte ihr Blick ihm unmissverständlich, dass er ein gefühlloser Vollidiot war.
Tom fühlte sich plötzlich unbeschreiblich schlecht.
Warum war es immer so? Warum war sein Bruder der Gute, der immer recht hatte? Und warum war er der Mistkerl, der nur an sich selbst zu denken schien? War er das wirklich? Gerade wollte er etwas Besänftigendes sagen, da fuhr Sid wieder auf. »Du hast immer nur Mist gebaut, du hast sie immer enttäuscht, und trotzdem hat sie dir alles verziehen!«
Tom schnappte nach Luft. Wen meinte er? Polly? Becky?
»Sie hat nächtelang wach gelegen, als du nicht mehr da warst, hat sich die Augen ausgeweint vor Angst und hat immer nur gesagt: ›Hoffentlich kommt unser Tom wieder, Sidney, hoffentlich kommt unser Tom wieder!‹ Dass ich die ganze Zeit bei ihr war und mich um sie gekümmert habe, hat gar nicht gezählt! Du solltest dich was schämen, Tom, ja, das solltest du!«
Tom seufzte. Also das war es? Dass Tante Polly ihn vielleicht mehr geliebt haben könnte als Sid?
»Es tut mir leid, Sid. Ich … Das wollte ich nicht. Ich bin mir sicher, wenn du weg gewesen wärst und ich wäre dageblieben, hätte sie immer nach dir gefragt und wegen dir geweint. Und ich werde dir … euch hier nicht lange zur Last fallen, das verspreche ich.«
Sid blickte aus geröteten Augen auf. Er lächelte schwach und deutete auf den Umschlag. »Dann unterschreibst du? Jetzt?«
»Du solltest es wirklich tun, Tom. Für Sid.« Becky sah ihn aufmunternd an, und Sid wischte sich die Tränen von der Wange.
In Tom zuckte etwas, als hätte ein Käfer ihn von innen in die Brust gebissen. Er schürzte die Lippen, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Warum habt ihr es nur so verdammt eilig? Warum wollt ihr mich so schnell wieder loswerden? Ich unterschreib ja, aber ich hab doch wohl ein Recht darauf, hier ein paar Tage zu wohnen, nicht?«
Sid blinzelte die letzten Tränen weg, und sein gerötetes Gesicht verlor langsam wieder die Farbe. Er sprach jetzt leise. Unverständnis lag in seiner Stimme. »Aber das war doch deine Idee, Tom! Du wolltest doch zu Richter Thatcher und dieses Dokument aufsetzen. Was ist denn jetzt los mit dir?«
»Nichts. Ich unterschreibe ja. Aber eben nicht jetzt. Später.« Er deutete auf die Teller. »Seid ihr fertig? Oder soll ich bei Harold einen Nachschlag holen?«
Sid schwieg, dann stand er auf und betrachtete Tom fassungslos. Er schüttelte den Kopf, dann wandte er sich an Becky. »Ich gehe hoch. Das war alles ein bisschen viel die letzten Tage. Ich muss mich ausruhen.«
Becky nickte, stand ebenfalls auf und gab Sid einen sanften Kuss auf die Stirn. »Mach das, Sidney. Ich werde morgen nach dir sehen.«
Sid schlurfte grußlos an Tom vorbei und nahm die ausgetretenen Stufen über die Außentreppe ins Obergeschoss. Tom blickte ihm nach und sah dann zu Becky, die sich eine
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