Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
und ihnen das Versprechen abgenommen, sich weiter um Huck zu kümmern. Dann hatte er in der Stadt eine Decke, Stroh für den Boden und etwas zu essen für Huck besorgt, weil er inzwischen nicht mehr glaubte, dass Joe Harper sich darum kümmern würde, Silberdollar hin oder her.
Nachdem er noch eine Stunde neben Huck ausgeharrt hatte und sich in dieser Zeit immer wieder vergewissert hatte, dass sich Hucks Brustkorb noch hob und senkte, hatte er das Gefängnis wieder abgeschlossen, war zum Büro des Sheriffs gegangen und hatte einem völlig verwirrten Billy Fisher den Schlüssel hingeworfen.
Dann ging er zu »Harold’s Happy Tavern« und bestellte dreimal Steak mit Bohnen und Speck. Während er seinen Koffer packte, hörte er die wuchtigen Schläge aus der Küche, mit denen Timothy versuchte, aus beinharten Fleischlappen zarte Steaks zu machen.
Timothy hatte auf ganzer Linie versagt.
Toms Kiefer schmerzte bereits, und er schnippte ein weiteres Stückchen Steak mit dem Messer unter den Tisch zu Hollis, der brav zu seinen Füßen lag und sich über alles freute, was für ihn abfiel. Die Stille war drückend. Sids Miene war wie versteinert, und selbst Becky hatte den Versuch aufgegeben, ein Gespräch zwischen den Brüdern in Gang zu bringen. Tom seufzte innerlich. Wahrscheinlich war es keine gute Idee gewesen, hierherzukommen. Wieder einmal keine gute Idee.
Er blickte zwischen Becky und Sid hin und her und fragte sich, wie diese beiden nur zusammenpassten. Was fand Becky bloß an seinem Bruder? Gut, Sid war nicht dumm, wahrscheinlich noch einer der Schlauesten in St. Petersburg. Aber abgesehen davon? Klar, er hatte noch dazu einen Job bei der Bank, er war mit Beckys Vater befreundet und schien sich im Gegensatz zu den meisten Männern in der Stadt regelmäßig zu waschen, aber reichte das? Herrgott, sie hatte doch offensichtlich Klasse! Und er? Sids Augen schimmerten blass in den dunklen Höhlen; das sonst oft leicht gerötete Gesicht wirkte fahl, die Haut teigig, der ganze Körper schien schlaff auf dem Stuhl zu hängen. Und dennoch: Irgendetwas musste da doch sein?
Vielleicht ist er ein guter Liebhaber, durchzuckte es Tom. Obwohl … vielleicht hatten sie ja noch gar nicht? Hoffentlich nicht, dachte Tom und fragte sich sogleich, warum er das dachte. Warum versetzte es ihm einen Stich, sich vorzustellen, wie Sid die Knöpfe ihres Kleides aufmachte? Wie der Stoff an ihr zu Boden glitt und ihren nackten Körper freigab. Und was für einen Körper …
»Geht’s dir gut, Tom?«
Er fuhr zusammen. Becky lächelte ihn freundlich an, Tom hatte nicht bemerkt, dass er sie angestarrt hatte, aber ihr schien es nicht entgangen zu sein. Er setzte eine freundliche Miene auf und deutete lebhaft mit der Gabel auf seinen Teller, während er mit vollem Mund redete. »Aber diefe Bohnen find echt gut, hm, Fid?«
Sid blickte auf. Auch ihm waren Toms Blicke zu Becky offenbar nicht entgangen, und er musterte Tom prüfend. »Also bleibst du hier, ja? Wie lange?«
Tom schluckte den Bissen hinunter. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. »Keine Ahnung, Sid. Ich … will auf jeden Fall bleiben, bis Huck wieder auf den Beinen ist.«
»Du glaubst wohl immer noch, dass er unschuldig ist?«
»In dem Land, in dem ich lebe, ist jemand so lange unschuldig, bis seine Schuld erwiesen ist, Sid.«
»Herrgott, ich hab’s doch gesehen, Tom! Ich stand hier! Und er stand da!«
Sid deutete aufgebracht auf die Dielen. Er war laut geworden, und Hollis stellte die Ohren auf.
Tom schüttelte den Kopf. Nie etwas glauben, was ein anderer gesehen hat, und nur die Hälfte von dem, was man selbst gesehen hat. Das hatte Lincoln immer gesagt. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Was hast du denn gesehen? Einen Mann, der sich über eine tote Frau beugt, mehr hast du nicht gesehen!«
»Was muss man denn noch mehr sehen? Da war nur ich und er und sonst niemand. Glaubst du, ich bin bescheuert? Glaubst du, ich lüge dich an?«
Sid schob ungehalten den Teller von sich, und Becky legte besänftigend die Hand auf Sids Arm. »Schon gut, Sid, das hat er nicht gesagt. Er hat’s nicht so gemeint.«
Sid zog den Arm unter ihrer Hand weg. Sein Gesicht nahm eine rote Färbung an, und er wies mit dem Finger auf Tom. »Aber gedacht hat er’s! Stimmt’s, Tom? Sag doch, dass es stimmt!«
Tom sagte gar nichts, weil er das Gefühl hatte, dass er schon zu viel gesagt hatte. Er schnippte ein letztes Stück Steak mit dem Messer zu Hollis, aber es rutschte unter den
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