Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Joe Harper und Becky ihm von der Sache erzählt hatten.
»Ich dachte immer, Huck und Ihre Tante wären Freunde. Er hat doch schließlich für sie gearbeitet.«
Tom merkte auf. »Er hat für sie gearbeitet?«
Sally schob die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern. »Ja, so … kleine Sachen für sie erledigt. Arbeiten in ihrem Garten, schwere Sachen tragen. Sie hat ihm dafür die Kaninchen gegeben.«
»Kaninchen? Was für Kaninchen?«
»Na, aus ihrem Garten. Sie hat wohl Kaninchen gehalten. Einmal, als ich ihm im Ort begegnet bin, hatte er so einen Sack dabei, der war ganz blutig, und ich hab ihn gefragt, was er da hat, und er hat gesagt, da seien Kaninchen drin, von Polly, und es war ihm irgendwie peinlich, glaube ich, weil er mir auch mal ein Kaninchen geschenkt hat, aber eins, das lebt, und die in dem Sack waren bestimmt tot. Wegen dem Blut, mein ich, verstehen Sie?«
Tom nickte und schwieg, dann deutete er auf Dobbins’ Haus hinter dem Zaun, der den Schulhof einschloss. »Hattie, das Mädchen von Mr Dobbins. Kennst du sie?«
»Ja, Sir. Wir kennen sie alle, Sir. In der Klasse, meine ich. Schließlich geht sie Mr Dobbins zur Hand. Wäscht, putzt und kocht und so.«
»Hast du sie heute schon gesehen? Oder gestern?«
Sally biss sich auf die Unterlippe und schien nachzudenken. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Nein, Sir.«
»Hatte sie irgendwelche Freunde unter euch Schülern?«
»Nein, Sir, sie ist doch schwarz.« Verständnislos sah sie Tom an.
Der nickte. »Natürlich ist sie das.«
»Aber Ihre Tante mochte Hattie gern. Sie haben wohl zusammen gebetet.«
»Sie haben zusammen gebetet?«
»Ja. Hattie war stolz darauf, dass Miss Polly mit ihr gebetet hat. Sie hat es uns erzählt. Hattie hat viel gebetet in letzter Zeit. Von meinem Platz im Klassenzimmer aus kann ich durch das Fenster in Mr Dobbins’ Garten sehen. Wenn Hattie Wäsche aufgehängt hat, ist sie oft noch eine Weile dagestanden, hatte die Hände gefaltet und vor sich hin gemurmelt. Manchmal hat sie geweint. Sie war wohl oft traurig.«
Tom nickte stumm und blickte über den Zaun zum angrenzenden Garten des Schulmeisters, wo Blumen, Kräuter und Gemüse in üppiger Pracht wuchsen. Dann, als er Sallys forschenden Blick auf sich spürte, sah er auf und lächelte. »Danke, Sally. Du hast mir sehr geholfen. Du kannst wieder hineingehen.«
Sallys Befangenheit von eben war mit einem Mal wie weggeblasen. Sie lächelte kokett. »Darf ich Sie auch etwas fragen, Mr Sawyer, Sir?«
»Klar, schieß los.«
»Bleiben Sie in St. Petersburg? Ich meine … für immer? Oder fahren Sie zurück nach Washington, weil Ihre Frau dort auf Sie wartet?«
Verblüfft schüttelte er den Kopf. »Ich … weiß es noch nicht. Eine Frau, die auf mich wartet, gibt es in Washington jedenfalls nicht.«
»Wie schade für Sie.« Sally lächelte zu ihm auf, und es sah ganz unschuldig aus. Sie sprang auf und lief zum Schulhaus.
Tom rief ihr nach: »Sei so gut, und schick mir bitte Will Tanner her!«
»Will Tanner, Sir?«
»Ja, der blonde Junge in der zweiten Reihe. Das ist doch Will Tanner?«
»Ja, Sir.«
Sally blinzelte verwirrt, dann ging sie ins Schulhaus.
Will Tanner war der Sohn von Bob Tanner und Amy Lawrence, für die Tom als Junge geschwärmt hatte, bevor er Becky kennenlernte. Das war der Junge, den Sid zu Joe Harper geschickt hatte, um den Sheriff zum Schauplatz des Mordes zu holen. Vielleicht hatte der Junge etwas gesehen oder bemerkt, was den Erwachsenen entgangen war. Tom blickte Sallys schlanker Gestalt nach. Ihr Gang war federnd und leicht, und bevor sie das Schulgebäude betrat, blickte sie keck lächelnd über die Schulter zu ihm.
Kaninchen.
Polly hatte Kaninchen gehasst. Schon immer. Polly hatte niesen müssen, sobald sie auch nur in die Nähe eines Kaninchens kam. Nicht einmal der Geschmack von Kaninchenkeulen hatte ihr zugesagt. Was auch immer Huck in dem blutigen Sack gehabt hatte, es war bestimmt kein Kaninchen aus Pollys Garten gewesen.
Es gab dort keine Kaninchen.
~~~
Die Steaks waren zäh wie Leder.
Sie kauten angestrengt und schwiegen, die Stille wurde nur vom Ticken der großen Standuhr und vom Geräusch der Messer unterbrochen, die Bohnen in einer fettigen Soße auf die Gabeln schoben und den weichen Speck zerteilten.
Becky hatte recht behalten: Das Essen aus der Küche von »Harold’s Happy Tavern« war zum Davonlaufen. Wenige Minuten zuvor war Tom mit drei übereinandergestapelten, dampfenden Tellern in der einen Hand
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