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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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noch hoch. Ich habe ihm einen Tee aus Weidenrinde gemacht und überlegt, ob ich seinen Ausschlag mit Quecksilber behandeln soll, aber ich bin mir nicht sicher, was dein schwarzer Doktor dazu sagen würde.«
    Darauf wusste Tom auch keine Antwort, aber ihm ging auf, dass er mit Cooper sprechen sollte, um ihm von den anderen verschwundenen Frauen zu erzählen.
    Dobbins rührte die Kräuter im Topf um, goss den Tee durch ein Tuch in eine Schüssel, füllte dann eine Tasse und gab sie Tom.
    »Schön trinken, solange er heiß ist, Tom!«
    Dobbins hatte den Zeigefinger mahnend erhoben. Dann ging er an den Tisch, setzte sich und wandte sich wieder dem Pflanzenalbum zu. »Ich habe seinen Verband gewechselt und die Wunde gesäubert. Es war alles voller stinkendem Eiter und voller Blut. Huck schwitzt wie ein Schwein, und seine Haare sind fettig und verfilzt. Ich denke, ich werde sie ihm beim nächsten Mal schneiden, damit sie nicht noch mit seiner Bauchwunde verwachsen, wenn du verstehst, was ich meine.«
    Dobbins sah zu ihm auf und kicherte. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte vor Tom das Bild eines Püppchens mit langen Haaren auf. Lange blonde Haare, die wild abstanden. Ein Bastpüppchen in den sehnigen Händen einer sehnigen Frau.
    Er hat das gesagt! Er ist der Hüter des Lichts!
    Er wischte den Gedanken weg. War das das Geschwätz einer Irren? Oder ein Hinweis auf Huck? Was hatte das Püppchen schon zu bedeuten? Auch Joe Harper trug schließlich die Haare lang; seit dem Krieg trugen viele Männer die Haare lang.
    War das nicht alles sinnlos?
    Tom rieb sich die Wange. Er musste weg. Weg aus Dobbins’ Haus, weg aus St. Petersburg, bevor er noch mehr durcheinanderbrachte. Becky und Sid. Joe Harper. Und sich selbst.
    Und weg, bevor ein Sonderermittler aus Washington ihn in ein Theaterstück einspannte, bei dem es bestimmt keinen Schlussapplaus geben würde.
    Tom trank die Tasse in einem Zug leer und stellte sie ab. »Ich gehe jetzt, Mr Dobbins. Vielen Dank für Ihre Zeit. Sie waren sehr freundlich, aber Sie sind beschäftigt und ich will nicht weiter stören.«
    Tom wies unbestimmt auf die Pflanzen und die gepressten Blumen, die Dobbins in das Album klebte und beschriftete.
    Der Lehrer blickte auf, legte seine Schreibfeder beiseite und winkte ab. »Ach was. Das hat keine Eile. Ich mache das zum Zeitvertreib, weißt du? Pflanzen sind sehr interessant, auch wenn du das vielleicht nicht glauben willst, Thomas. Sie sind überall um einen herum, und doch sind sie spannend und voller Geheimnisse. Hier siehst du …«
    Er zog einige der flachen grünen Gebilde aus einem kleinen Häufchen und tippte begeistert darauf. »Yamswurzel, Anemone patens , Litospermum ruderale, und hier: Aesculus pavia, die echte Pavie. Ich hab sie vom Lovers’ Leap. Alles höchst erstaunliche Pflanzen, alle sind sie Gottes Schöpfung, und doch weiß kaum jemand, was diese Gewächse für Geheimnisse bergen, und ich …«
    Dobbins brach ab und sein Lächeln verebbte plötzlich. Er sah Tom traurig an, kratzte sich am Nacken. »Und ich rede und rede, und es interessiert dich natürlich nicht.«
    Tom wollte halbherzig widersprechen, doch Dobbins hob die Hand. »Nein, nein, Tom, sag nichts, ich weiß schon. Das ist eben meine Art, mit so was umzugehen, weißt du? Das mit Hattie. Ich mache mir einfach Sorgen und rede drauflos … Du hast vorher nichts gesagt, als ich dich und Joe gefragt habe, ob sie wohl wiederkommt.«
    Tom schwieg. Er überlegte, dann sagte er: »Eine ist wiedergekommen.«
    Dobbins blinzelte und setzte die Brille ab. »Eine ist wiedergekommen? Wie meinst du das?«
    Tom trat an den Tisch. »Hattie ist nicht die erste Frau aus der Gegend, die vermisst wird. Drei andere Frauen sind vor ihr verschwunden, aber während des Krieges hat niemand der Sache größere Bedeutung beigemessen, weil so viele gestorben oder geflüchtet oder irgendwohin verschwunden sind. Sie hießen Debbie Chisholm, Fanny George und Gracie Miller.«
    Dobbins riss die Augen auf. »Gracie Miller! Du hast recht! Sie ist verschwunden, auf diesem Waldstück. Aber das war schon vor … acht Jahren. Sie war eine Klassenkameradin von dir.«
    Tom nickte. »Fanny George war eine Schwarze. Sie hat für Sparks, den Stellmacher, gearbeitet. Und Debbie Chisholm ist die Frau eines Fischers. Sie verschwand vor nicht ganz zwei Jahren, aber sie ist zwei Monate später wieder aufgetaucht und ist seitdem völlig verwirrt. Redet kaum etwas, und wenn, dann nur komisches Zeug.«
    Dobbins

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