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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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legte die Stirn in Falten. »Und du glaubst, Hattie …« Sein Zeigefinger beschrieb kleine Kreise, als würde das den Satz zu Ende führen.
    Tom schob die Unterlippe vor. »Ich weiß es nicht. Aber Polly hat anscheinend etwas gewusst. Sie hat gedacht, die drei Frauen seien von ein und demselben Mann entführt worden. Jetzt ist Polly tot, und eine vierte Frau ist verschwunden.«
    Dobbins starrte Tom fassungslos an. Er setzte an, etwas zu sagen, dann blickte er zur Seite und schwieg. Als er Tom wieder ansah, war er ganz ruhig. Der Schalk, der sonst aus seinen Augen blitzte, war verschwunden.
    »Du musst diesen Mistkerl finden, wenn es ihn gibt, Tom. Hörst du? Du musst es einfach tun. Joe ist ein guter Kerl, aber …« Wieder sprach sein kreisender Finger den Satz zu Ende.
    Tom nickte. »Ich weiß. Aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Er hinterlässt keine Spuren. Zumindest hat er bei keiner der Frauen, die verschwunden sind, irgendwelche Spuren hinterlassen. Ich weiß einfach nicht, was ich als Nächstes tun soll. Es gibt Hinweise, aber sie scheinen alle ins Nichts zu führen.«
    Dobbins legte ihm väterlich die Hand auf den Arm. »Du schaffst das, Tom. Du musst dich vielleicht einfach mal ausruhen, weißt du?« Er deutete auf Toms Wange. »Wer hat dir denn das schöne Andenken verpasst? War das eines der Mädchen bei Madame Pauline? Diese Kätzchen können ganz schön wild werden, wenn man sich nicht benimmt, stimmt’s?«
    Dobbins grinste anzüglich.
    Toms Wange brannte plötzlich wieder. Becky tauchte vor seinen Augen auf. Der Kuss bei der Ruine seines Elternhauses in Marion City. Und ihr Körper, eng an seinen gepresst. Er hatte früher schon für Becky Prügel eingesteckt. Dass er von ihr Prügel einsteckte, war neu, aber dennoch wollte er sie weder anschwärzen, noch wollte er Dobbins erklären, warum er von der Verlobten seines Stiefbruders eine gelangt bekommen hatte. Er nickte und hob die Hände, als hätte ihn Dobbins ertappt.
    Der Lehrer knuffte ihm freundschaftlich den Arm. »Wusst ich’s doch! Du hast dich nicht verändert, Tom. Aber es sei dir gegönnt. Nach meinem Tee und nach einem heißen Ritt auf einem von Madame Paulines Mädchen wirst du heute Nacht schlafen wie ein Wiegenkind, mein Lieber. Und morgen sieht die Welt schon ganz anders aus, stimmt’s?«
    ~~~
    »Und nun, Gentlemen, habe ich die große Ehre, Ihnen die erstaunliche, die unvergleichliche Insatiable Iris vorzustellen, die ihrem Namen alle Ehre macht. Bleiben Sie sitzen, bringen Sie sich nicht unnötig in Gefahr bei dem Versuch, auf die Bühne zu steigen. Gerald hat strikte Anweisung, auf alle zu schießen, die ihr zu nahe kommen! Ich bitte die Gentlemen um Applaus für eine große Künstlerin.«
    Die Männer im Saal blickten von ihrem Draw Poker und von ihrem Ante-Dollar-Spiel auf, klatschten und johlten, und Madame Pauline, eine dürre, verhärmte Frau Ende fünfzig in einem grauen Tüllkleid, die besser in einen Temperenzlerverein gepasst hätte als in ein Bordell, drehte an den Lampen, die die Bühne erhellten, um das Licht stimmungsvoller zu machen.
    Gerald saß am Piano, er war der einzige männliche Mitarbeiter von »Madame Pauline’s«. Geralds bläulich weiße Haut und die Einstichnarben an seinen Venen sagten Tom jedoch, dass er mit einem Revolver höchstens für sich selbst eine Gefahr darstellte. Morphinisten waren eine der bedauernswertesten Spätfolgen des Krieges.
    Gerald griff in die Tasten, schien sich jedoch nur für die linke Hälfte des Klaviers zu interessieren, wo die dunklen, tiefen Töne herkamen. Es sollte dramatisch klingen, so viel stand fest.
    Der zerschlissene Samtvorhang vor der kleinen Bühne teilte sich, und Iris, die Unersättliche, stand in einem Käfig. Sie sah zugegebenermaßen wild aus. Iris hatte die Statur eines Mastschweins. Sie war klein und drall, und ihr voluminöser Bauch wölbte sich ebenso weit vor wie ihre nicht minder voluminösen Brüste. Unter dem pausbäckigen Gesicht mit den schwarzen Locken darum herum wabbelte ein Doppelkinn auf den Halsausschnitt. Zu den schwarzen Strümpfen mit Strumpfbändern, in denen pralle Schenkel steckten, trug sie eine Korsage, die mit Fell bestickt und mit Federn verziert war, und an die Wangen hatte sie Fäden geklebt, die schlaff an ihrem Mund herunterhingen und wohl so etwas wie die Barthaare eines Raubtieres darstellen sollten. Sie gab ein Fauchen und Grunzen von sich und bog ihre speckigen Finger zu Krallen, während sie sich zu Geralds

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