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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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warum das Marineministerium? Offenbar war die brüchige Partnerschaft von Präsident Johnson und Kriegsminister Stanton, in dessen Händen die Jagd auf Booth gelegen hatte, inzwischen so zerrüttet, dass Johnson die weiteren Ermittlungen seinem Freund Gideon Welles, dem Marineminister, übertragen hatte. Schon kurz nach Lincolns Tod hatte sich die Rivalität der beiden Männer deutlich abgezeichnet. Ebenso die Tatsache, dass Johnson als Präsident anecken würde und dass Nebenkriegsschauplätze willkommen waren. Tom hatte gehofft, er hätte Washington und die dortigen Intrigen endgültig hinter sich gelassen. Jetzt schien es so, als könnte er zwar Washington verlassen, aber Washington nicht ihn.
    Der Karfreitag holte ihn ein. Das Ford’s Theatre holte ihn ein.
    Bleiben Sie gut, Thomas. Bleiben Sie gerecht.
    Joe Harpers Pferd wieherte auf, als der Sheriff am Haus vorbeiritt. Tom ließ das Telegramm sinken, schloss die Augen und massierte sie mit Daumen und Zeigefinger.
    »Schlechte Nachrichten?«, fragte Dobbins mitfühlend.
    Tom nickte. »Ich soll in einem Theaterstück mitspielen.«
    Dobbins stutzte und musterte ihn kritisch. »Du redest wirr, Thomas«, sagte er kopfschüttelnd. »Und du siehst entsetzlich aus.« Er stand auf. »Du hast wieder nicht geschlafen, stimmt’s? Ich werde dir einen Tee brauen, und diesmal wird er wirken, verlass dich drauf. Dein Körper und dein Geist müssen sich erholen.«
    Tom hatte plötzlich wieder den gallebitteren Geschmack von Dobbins’ Tee, den er vorgestern Nacht auf dem Lovers’ Leap getrunken hatte, auf der Zunge. Er hob die Hand, um zu protestieren, aber Dobbins war bereits am Herd. Er schob einen Topf auf die gusseiserne Herdplatte und holte Kräuter aus verschiedenen Tiegeln, die er in einem Regal über dem Herd aufbewahrte.
    Kräuter.
    Tom erinnerte sich an etwas, was Becky gesagt hatte, stand auf und trat neben den Lehrer. »Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?«
    Er zog einen der Pflanzenstängel, die er in der Seifenschachtel bei Polly gefunden hatte, aus der Jackentasche und hielt ihn Dobbins hin. Dobbins nahm ihn und betrachtete das vertrocknete Ding mit dem Bindfaden eingehend. Er schnupperte daran und leckte sogar mit der Zungenspitze an dem Hölzchen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Diese Art von röhrenartigem gerippten Stängel ist weit verbreitet bei Doldengewächsen, den Apiaceae . Es ist aber sicher nicht Dill oder Liebstöckel, das würde man schmecken. Es könnte ein gefleckter Schierling sein, allerdings habe ich den in dieser Gegend bisher kaum gesehen. Wo hast du den her?«
    Tom zögerte kurz. Dann sagte er: »Ich hab ihn gefunden. Bei Polly. Sie hatte ein paar davon in einer Schachtel.«
    Dobbins legte die Stirn in Falten. »In einer Schachtel? Seltsam. Sie hat sie wohl kaum in ihrem Gärtchen angebaut, oder?«
    Tom zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht. Was macht man denn mit geflecktem Schierling? Ist das auch ein Gewürz wie Liebstöckel?«
    Dobbins schnaubte kurz, dann tätschelte er Tom die Schulter. »Du weißt tatsachlich wenig über die Welt der Biologie, was, Tom? Aber vielleicht weißt du noch etwas über Sokrates?«
    Tom zuckte wieder mit den Schultern. Wie kam es nur, das Dobbins ihn immer abzufragen schien? Als würde er noch an der Tafel stehen und Dobbins stünde hinter ihm und lauerte auf Fehler.
    »Ein Grieche, oder? Ein Feldherr?«
    Dobbins seufzte enttäuscht. »Nicht raten, Tom! Streng dich an! Sokrates. Der griechische Philosoph. ›Ich weiß, dass ich nichts weiß!‹ Wir haben über ihn gesprochen, ich erinnere mich genau.«
    Ja, dachte Tom, vor ungefähr zwanzig Jahren, und wahrscheinlich habe ich an dem Tag geschwänzt. Bedauernd hob er die Arme. »Tut mir leid. Ich weiß es nicht. Was hat Sokrates mit diesem Stängel zu tun?«
    »Sokrates war Lehrer, und er wurde angeklagt, er würde seine Schüler verderben. Das muss man sich mal vorstellen!« Dobbins lächelte. »Man hat ihn zum Tode verurteilt, und er wurde gezwungen, einen Becher mit Gift zu trinken. In diesem Becher war ein Saft aus Schierling. Das ist ein starkes Gift, und ich habe keine Ahnung, was deine Tante damit vorhatte, und wozu dieses Schnürchen dient, kann ich dir auch nicht sagen.«
    Gift? Tom blinzelte. Er musste sich in Pollys Gärtchen umsehen, so viel stand fest.
    Dobbins zog das kochende Wasser vom Herd und warf seine Kräuter hinein. »Ich war bei Huck heute. Es geht ihm besser, aber das Fieber ist immer

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