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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Rhythmus an den Stangen des Käfigs rieb und gleichzeitig nach einer Wurst schnappte, die über dem Käfig aufgehängt war.
    Als sie das Ding schließlich in die Finger bekam, leckte sie daran, rieb stöhnend ihre Wange an der Pelle, steckte sie zur Hälfte in den Mund und zog sie wieder heraus, wobei sie verzückt die Augen schloss. Die Menge johlte begeistert, als sie schließlich hineinbiss.
    Tom fand es nicht gerade abstoßend, allenfalls ein wenig albern. Dennoch sah er fasziniert zu, so wie alle Männer im Saal.
    Er dachte nicht an Becky. Nein. Wirklich nicht.
    Was sollte sie auch damit zu tun haben, dass er in Madame Paulines Hurenhaus an der Bar saß und Whiskey trank? Schließlich war Becky verlobt, und er war ledig, ein erwachsener Mann und gesund. Was also sprach dagegen, dass er sich mit einer von Madame Paulines Huren anständig unterhielt und dann mit ihr nach oben in ein Zimmer ging und tat, wonach immer ihm und ihr der Sinn stand?
    Nichts.
    Außer vielleicht die Tatsache, dass er schon stark schwankte und Mühe hatte, sich auf dem Barhocker zu halten, auf dem er seit geraumer Zeit saß, vor sich eine Flasche von J. Fred McCurnins Whiskey. Tom hatte sich vorgenommen, genau dort weiterzumachen, wo Dale ihn vor zwei Tagen in »Harold’s Happy Tavern« unterbrochen hatte, und wie es aussah, war dieses Vorhaben geglückt.
    Er war voll bis in die Haarspitzen.
    Nachdem sich Tom von seinem ehemaligen Lehrer verabschiedet hatte, war er um das Haus gegangen und hatte noch einen Blick in den Schuppen geworfen, in dem Hattie wohl gelegentlich nachts schlief. Außer einer alten kratzigen Wolldecke und platt gelegenem Stroh hatte er jedoch nichts entdeckt. War Hattie in der Nacht von Sonntag auf Montag in diesem Schuppen gewesen oder nicht? Tom konnte es nicht sagen.
    Eine gute halbe Stunde später hatte Hollis Luftsprünge gemacht, als Tom ihn im Reitstall der Thatchers abholte, und er war nicht zu bremsen gewesen, als Tom ihm aus den Fleischabfällen in den von Fliegen umschwirrten Tonnen hinter »Harold’s Happy Tavern« einen Knochen fischte. Im Bordell waren Hunde nicht erlaubt, aber Hollis war glücklich mit seinem Knochen vor dem Hurenhaus liegen geblieben, hatte daran genagt und Tom keines Blickes mehr gewürdigt.
    »Mehr! Mehr! Mehr!«
    Die Männer vor der Bühne johlten, als Iris sich endlich von ihrer Korsage befreite und ihr üppig wabbelndes Fleisch an den Stangen des Käfigs rieb. Tom schüttelte sich, sein Blick verschwamm, und er fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Er schloss kurz die Augen.
    Als er sie wieder öffnete, stand eine kleine Chinesin in einem gelb-roten Seidenkleid hinter dem Tresen. Schulterlanges Haar fiel ihr über die Schultern wie schwarzes Wasser. Ihr Gesicht war breit und flach und von wenig Liebreiz, aber so genau konnte er es auch nicht erkennen.
    Sie verschränkte die Arme vor der Brust, dann zog sie die Mundwinkel nach oben und ahmte ein Lächeln nach. »Hi. Ich bin Lickin’ Lucy. Und du?«
    Es interessierte sie kein bisschen, das war ganz offensichtlich, Tom konnte es sogar durch den Whiskeynebel hindurch wahrnehmen.
    »Tom«, sagte er und spürte, wie seine Zunge dabei schwer gegen den Gaumen stieß.
    »Hast du Zeit, Mr Tom? Und ’n bisschen Geld? Willst du den Himmel auf Erden erleben?«
    Ihre Worte klingen ungefähr so fröhlich, als sei auch ihre geliebte Tante gerade gestorben, dachte Tom. Aber egal, jetzt ist es also so weit.
    »Himmel auf Erden? Hört sich gut an«, wollte er erwidern, sagte jedoch etwas, das in seinen Ohren so klang wie: »Himmaufeden? Hössichguan«.
    Lucy schien Toms Aussprache perfekt zu verstehen. Viele der Männer, die zu »Madame Pauline’s« kamen, sprachen wohl mit dem gleichen Akzent.
    »Dann komm«, sagte sie, lief am Tresen entlang auf eine Treppe zu, die zu den Zimmern nach oben führte.
    Tom erhob sich schwerfällig, kam schwankend auf die Füße und warf einen Geldschein auf den Tresen. Er ging los, dann, nach zwei Schritten, machte er kehrt, griff nach der halb vollen Flasche Whiskey und schob sich zur Treppe, wo Lucy auf ihn wartete. Er empfand Dankbarkeit für das Treppengeländer, und als er Lucys schlanke Beine und ihre glatte Haut durch den seitlichen Schlitz ihres Kleides sah, fühlte Tom sich plötzlich kräftiger und erklomm die Treppe ohne weitere Schwierigkeiten.
    Am Ende der Treppe bog Lucy nach links in einen Flur. Tom wich einer schwarzen Hure und ihrem Freier aus, die ihm entgegenkamen, und stolperte

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