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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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nicht.
    Tom beschleunigte den Schritt. Als er zwischen zwei Kiefern auf einem steinigen Stück des Pfades beinahe ausgerutscht wäre, blickte Becky auf, und ein kleiner Schrei entfuhr ihr. »Tom!«
    Sie rannte auf ihn zu, und Tom konnte aus ihrer Miene nicht lesen, ob sie wütend war oder erleichtert, ihn zu sehen. Sicherheitshalber blieb er stehen.
    »Becky! Gut, dich zu sehen, ich –«
    Die Ohrfeige knallte laut, Toms Gesicht flog zur Seite, und er sah Sternchen.
    Becky stemmte die Fäuste in die Hüften. »Wie kannst du mir so einen Schrecken einjagen, Tom Sawyer?«
    Er fasste sich an den Kiefer und schüttelte benommen den Kopf, bis er feststellte, dass seine Beule am Kopf davon wieder schmerzte. »B-Becky, bist von Sinnen? W-warum –«
    Becky schlang die Arme um seinen Hals und riss ihn dabei fast um. Tom stöhnte auf, weil sie ihn an sich presste, als würde er davonfliegen, wenn sie ihn nicht ganz fest umklammert hielt.
    »Mein Gott, Tom! Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Wo hast du nur gesteckt?«
    Tom war von der Umarmung fast ebenso überrumpelt wie von der Ohrfeige. »I-ich … ich hatte Schwierigkeiten, bin da vor drei Tagen in so eine Sache geraten und –«
    »Schwierigkeiten, so so. Das glaub ich gern«, sagte eine Männerstimme.
    Joe Harper trug einen sandfarbenen Anzug mit einem kleinen schwarzen Binder am weißen Hemdkragen und dazu helle Wildlederhandschuhe.
    Tom löste sich von Becky und humpelte ein paar Schritte auf Harper zu.
    Der Sheriff musterte Tom kühl und nickte zu der Beule an Toms Stirn. »Na, Tom? Bist du in eine Schlägerei geraten?«
    Er lächelte freudlos.
    Tom zuckte mit den Schultern. »Bin besoffen vom Pferd gefallen, wenn du’s genau wissen willst, Joe.«
    Joe legte die Hände auf die Colts, die links und rechts an seinem Gürtel hingen, und sah sich mit gespieltem Eifer um.
    »Ich glaub gern, dass du besoffen warst, Tom. Aber ich seh kein Pferd.«
    Tom hatte weder die Absicht, ihm von Shipshewanos Pony zu erzählen, noch wollte er Joe erklären, dass er die Beule Jeb und Dale zu verdanken hatte. Schließlich hatte er mit beiden noch ein Hühnchen zu rupfen. »Das Pferd ist weggerannt, wahrscheinlich sitzt es irgendwo mit Harbinsons Hund in einem Busch und wartet darauf, dass du sie endlich findest.«
    Der Sheriff verzog keine Miene.
    Tom stöhnte. »Was soll das, Joe? Wen beerdigst du hier?«
    Tom nickte zu dem Karren des Bestatters und zu dem formlosen Etwas unter der Plane. Fliegen schwirrten in einer Wolke darüber. Ein säuerlicher Karbolgeruch stieg Tom in die Nase.
    Bitte lass es nicht Huck sein! Bitte nicht!
    »Darüber wollte ich gerade mit dir reden, Tom.« Harper trat an den Karren und legte die Hand an die Plane.
    Nathaniel, der Bestatter, der bis dahin stumm die Unterhaltung verfolgt hatte, trat einen Schritt zurück. »Warte, Butch«, wies er seinen Assistenten an, einen alten, seltsam feingliedrigen Mann, der mit der Schaufel vom Friedhof kam.
    Becky trat von hinten an Tom heran. »Bitte sag mir, dass du nichts damit zu tun hast!«, flüsterte sie. In ihrer Stimme lag Angst.
    Tom sah ihr erstaunt in die Augen. Große Beunruhigung lag darin.
    »Du tust so etwas nicht, Tom, stimmt’s?«
    Tom schüttelte verwirrt den Kopf. Wovon redete sie?
    Bitte lass es nicht Huck sein! Bitte nicht!
    Er machte einen weiteren Schritt auf den Karren zu, als Harper die Plane von dem toten Körper zog und die Fliegen erst auseinanderstoben und sich dann mit einem fiebrigen Brummen auf den Leichnam stürzten.
    »Ihr hattet Ärger, Tom. Das wusste jeder. Was ich nicht weiß, ist, ob du ihn umgelegt hast, aber das wirst du mir gleich sagen, und wenn mir die Antwort nicht gefällt, bekommst du die Zelle neben Huck.«
    Tom blickte über die niedrigen Bretter, die die Seitenwände des Karrens bildeten, und schluckte. Der Gestank war bestialisch. Der Hals des Toten war dünn, sehnig und wirkte ausgezehrt, die Haut war wächsern, fast durchscheinend, bis auf seltsam hervortretende blaue Adern. Tom hob den Blick etwas höher, und ihm wurde schlecht.
    Von dem Gesicht war fast nichts mehr übrig. Irgendjemand hatte den Mann erschlagen. Die Nase war zertrümmert, Augen und Mund eine einzige blutige Masse.
    Tom würgte.
    Struppige blonde Fransen standen links und rechts des zerstörten Gesichts ab. Der Mann trug die zerschlissene Uniform der Südstaaten. Auf der Brusttasche gekreuzte Kanonen, das Abzeichen der Artillerie.
    Der Tote auf dem Karren war Jeb.
    ~~~
    »Verdammte Scheiße!«,

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