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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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stieß auf den Eingang zu einem gewaltigen Höhlensystem. Das war die McDouglas-Höhle, in der Tom und Becky sich als Kinder bei einem Picknick verirrt hatten. Erst nach Tagen hatten sie den Weg nach draußen gefunden, als alle Welt die Suche nach ihnen schon aufgegeben hatte. Die Höhle war seitdem mit einer wuchtigen Eichentür verschlossen, und der Schlüssel wurde im Rathaus verwahrt, damit so etwas nicht mehr passierte.
    Aber was, durchfuhr es Tom, was, wenn doch jemand die Höhle geöffnet hatte?
    Was, wenn das der Ort war, an dem der »Dämon« die Frauen versteckt hielt, die er verschleppte? Was, wenn das der »Kerker« war, in dem die Frau des Fischers gefangen gehalten wurde, wo der »Hüter des Lichts« zu ihr gekommen war? Wochenlang in dieser Höhle im Dunkeln zu sitzen würde jeden in den Wahnsinn treiben, nicht nur Debbie Chisholm. Tom rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Es kam ihm vor, als hätte er Debbie Chisholms Bastknäuel in der Hand und wüsste nicht, wie er es entwirren sollte. Er wusste einfach nicht, wo er anfangen sollte, etwas Sinnvolles aus all den Fäden zu formen, die er in den Händen hielt.
    Kümmere dich um Tom , hatte Thatcher gesagt, als Tom ihn und Harper belauscht hatte, und dann hatte der Richter von unserem Mann gesprochen. Tom dachte an das, was Dobbins ihm über Sids Zettel in Lucius Austins Drugstore erzählt hatte. Angeblich war Sid auf der Suche nach einer Haushaltshilfe, und deswegen hatte Hattie mit ihm sprechen wollen. Er dachte auch an Pollys Garten. Und wie durch einen Nebel hörte er Lickin’ Lucys Stimme in seinem Kopf, die über Sally Austin redete, und dann war da noch irgendetwas mit den Schiefertafeln, die im ersten Stock von »Madame Pauline’s« über den Türen hingen, doch er kam nicht darauf. Doch er musste darauf kommen.
    »Ich muss zurück, Shipshewano. Nach St. Petersburg.«
    Der Häuptling musterte Tom und ließ seine schwarzen Augen über die Wunden im Gesicht seines Gegenübers schweifen. Er nickte. »Du müssen zurück, Tom Sawyer. Aber nicht heute. Morgen.«
    Er sagte etwas für Tom Unverständliches zu dem Alten, der seinen Singsang und den Tanz unterbrochen hatte und jetzt ebenfalls am Feuer hockte und an der Pfeife sog. Der Alte, vermutlich der Medizinmann der Sippe, blickte zu Tom. Er erwiderte etwas, dann beugte er sich vor, nahm ein verglühtes Stück Holzkohle und zerrieb es in den Händen.
    Der Alte kroch zu Tom, dann tunkte er die Spitze seines Daumens in das Kohlepulver in seiner Handfläche. Er hob die Hand und näherte den Daumen Toms Gesicht.
    Tom wich zurück. »Was macht er da?«, fragte er Shipshewano, während er aus den Augenwinkeln auf den Alten blickte, der in der Bewegung innegehalten hatte.
    »Er dich schützen, Tom Sawyer. Gegen Dämon. Dämon ist Wolf, du bist Hund. Jagdhund. Du mutig und stark, aber Dämon ist Wolf; töten Hunde. Er stärker. Du brauchen Schutz, Tom Sawyer.«
    Waren es die Worte des Häuptlings, oder war es die Wirkung der Pfeife? Tom wusste es nicht, aber plötzlich wichen jede Hemmung und jede Furcht von ihm. Er nickte nur stumm und wandte das Gesicht dem alten Schamanen zu. Ein leichter Nieselregen setzte ein. Der Alte murmelte etwas, und Tom blickte noch mal zu Shipshewano. »Was sagt er?«
    »Er sagen, du die Augen schließen.«
    Tom tat, wie ihm geheißen, und spürte, wie der alte Mann ihm mit kohlegeschwärzten, rauen Fingern die uralten Symbole seines Volkes auf Gesicht und Wangen malte. Dazu stimmte der Alte einen leisen Singsang an. Und noch etwas spürte Tom. So heftig, wie er es seit dem verhängnisvollen Karfreitag im Ford’s Theatre nicht mehr gespürt hatte, als sein Präsident feige ermordet wurde.
    Er spürte den Zorn.
    Den Zorn gegen den Wolf.

An den Gleisen,
am Morgen des 15. Juli 1865
    Staunend hob Tom einen der Pflanzenstängel auf. Pepinawah hatte sie achtlos fallen lassen, als er vor zwei Tagen Toms Taschen nach etwas Wertvollem durchsucht hatte, während Tom gefesselt auf den Gleisen lag und der Zug ratternd und stampfend näher gekommen war.
    Sie waren aufgequollen.
    Die Stängel waren mehr als doppelt so dick wie zuvor, fast so dick wie ein Nudelholz und schwer von der Nässe, mit der sie sich vollgesogen hatten. Offenbar hatte der nächtliche Regen diese merkwürdige Veränderung bewirkt.
    Tom wollte sie nicht im Dreck zwischen den Schienensträngen liegen lassen, um etwas zum Vergleich zu haben, wenn er in Pollys Garten nach der Pflanze suchte, doch nun waren

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