Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
würde er tun.
»Tom Sawyer.« Der Häuptling zügelte sein Pferd, streckte den Arm aus und deutete in das Tal, das vor ihnen lag und an dessen Rändern sich Felder mit Weizen, Mais und Gerste ausdehnten, die in der Sonne reiften.
St. Petersburg erstreckte sich zwischen dem Cardiff Hill im Norden und dem Lovers’ Leap im Süden, und von hier oben sah es aus, als würden die Häuser am Pier demnächst in den Mississippi gedrängt werden. Der Bear Creek floss am Südrand der Stadt dahin wie eine träge silberne Schlange, und der Rauch von den Kochfeuern kräuselte sich aus den Schornsteinen zum wolkenlosen Himmel.
Eine halbe Meile entfernt, weit vor den ersten Häusern der Stadt, entdeckte Tom einige Pferde im Schatten von Platanen. Es war der Friedhof. Offensichtlich fand gerade eine Beerdigung statt: Auf einem schwarz gestrichenen Karren lag etwas unter einer Plane.
Der Bestatter, gut zu erkennen an seinem Zylinder, stand neben dem Fuhrwerk und wechselte Worte mit zwei weiteren Personen. Tom hatte den Eindruck, als würde die kleine Gruppe innehalten und zu ihm und dem Häuptling heraufblicken, bevor sie sich wieder ins Gespräch vertieften.
Shipshewano ließ seine Stute ein paar kleine Schritte zur Seite tänzeln, sodass ein Busch ihn verbarg. »Shipshewano dreht hier um. Geht heim.«
»Ja, ich verstehe.« Tom stieg vom Pony und biss die Zähne aufeinander, als er mit dem linken Bein sein Gewicht abfederte. Er gab dem Häuptling die Hand. »Vielen Dank für alles. Und richte Pepinawah auch noch mal meinen Dank aus. Sag ihm, er soll gut auf das Atkinson-Messer aufpassen. Ich denke, er hat nur vergessen, es mir zurückzugeben. Genau wie die Dollarscheine. Er kann beides behalten.«
Tom grinste, doch die Miene des Häuptlings blieb unbewegt. »Pepinawah hat Messer nicht vergessen. Pepinawah hat auch Dollar nicht vergessen. Beides Anzahlung für Hilfe für Tom Sawyer. Holzfäller kommen bald, und wir müssen weg. Shipshewanos Familie brauchen Essen und Geld, Tom Sawyer. Dreißig Dollar sind genug.«
»Dreißig Dollar? Gütiger Herr im Himmel, wieso …« Tom stockte, er blickte zu Boden und schwieg.
Shipshewanos Stute schnaubte leise, und der Häuptling tätschelte ihr die Seite. »Du Schulden bezahlen, Tom Sawyer?«
Tom seufzte. »Natürlich, Häuptling. Trotzdem danke.«
Shipshewano ergriff Toms Hand und schüttelte sie. »Besser du nicht sagen, dass wir in Wald, wo Holzfäller bald kommen, Tom Sawyer. Wir haben sonst vielleicht nicht genug Zeit, Reise vorzubereiten.«
Tom nickte, dann griff Shipshewano nach den Zügeln des Ponys und trieb sein Pferd an. Tom wandte sich hügelabwärts und ging steif ein paar Schritte auf den Friedhof zu.
»Tom Sawyer.«
Er drehte sich um. Shipshewano war noch einmal stehen geblieben. »Ja, Häuptling?«
Der Indianer beschirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne. Er blickte nach Osten, wo der Lovers’ Leap über dem Mississippi aufragte. »Du fangen Bösen Mann. Du bist Hund und er Wolf. Aber du jetzt starker Hund. Du stärker als Dämon.«
Tom schwieg, und Shipshewano griff in die Zügel und trieb die Pferde zurück über den Hydesburg Hill zu den Schienen.
»Ja, Häuptling«, sagte Tom leise, obwohl Shipshewano schon längst hinter der Hügelkuppe verschwunden war. Versonnen strich er sich mit der Hand über die Stirn, und weil sein Sonnenbrand sich schälte, lösten sich kleine Hautfetzen und schwebten langsam durch die warme Luft zu Boden. Er folgte dem schmalen Pfad, der an der unbewaldeten Seite des Hügels hinab zum Friedhof führte.
Als er über den Bretterzaun hinwegblickte, entdeckte Tom einen Mann, der sich erschöpft auf eine Schaufel stützte. Er hatte am Rande des Friedhofs ein Grab ausgehoben, dort, wo die Armengräber lagen und wo man Fremde und die weniger angesehenen Bürger von St. Petersburg bestattete. Tom wusste, dass er schon längst ein Gebet an Pollys Grab hätte sprechen sollen, und sein schlechtes Gewissen gab ihm einen Stich.
Als er näher kam, erkannte Tom die beiden anderen Personen, die an dem schwarz getünchten Pritschenwagen des noch jungen Bestatters Nathaniel Donaghy standen. Es waren Joe Harper und Becky. Sie trug ein dunkelgrünes Musselinkleid und einen Strohhut, mehr eine Haube zum Schutz gegen die Sonne, und machte sich Notizen in ihr kleines Buch. Offensichtlich befragte sie den Sheriff. Toms Herz zog sich für einen Moment zusammen.
War das Grab für Huck?
Beten Sie für ihn. Vielleicht schafft er’s, vielleicht
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