Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
sie so ganz anders als jede Pflanze, die er bis jetzt gesehen hatte. Er drückte die Nässe aus dem Stiel heraus, so gut es ging, und wandte sich zu seinem Begleiter. »Hast du so etwas schon mal gesehen, Häuptling?«
Shipshewano saß auf einer braun-weiß gefleckten Stute und ließ den Blick über den Weiher und über die Silberpappeln schweifen. Die Bäume glänzten nach dem nächtlichen Regen wie frisch gewaschen. Die Sonne stand noch tief, der Himmel war stahlblau, und die Luft roch süßlich nach Wiesenblumen.
Shipshewano wandte die Augen von dem Weiher ab, und sein Blick heftete sich auf den tropfenden Stängel, den Tom ihm hinhielt. Er nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, drehte ihn und schüttelte dann den Kopf. »Nicht von hier. Shipshewano hat Pflanze nie gesehen. Aber ich sehen andere Sachen.« Der Häuptling deutete auf die Böschung neben dem schmalen Pfad, auf dem sie hergeritten waren.
In den Pfützen und dem getrockneten Schlamm vor der Böschung waren die Abdrücke von Rädern zu sehen. Jemand hatte einen Wagen oder Karren hin und her geschoben, um ihn möglichst nah an die Böschung heranzubringen, und dabei im nassen Boden tiefe Furchen hinterlassen. Warum hatte er versucht, möglichst nah an die Böschung heranzukommen? Weil er eine schwere Last zu transportieren hatte? Einen Körper? Toms Körper?
Tom trat näher und betrachtete das Gras zwischen den Schienen und der Pfütze. Es war zertreten, an den kleinen Büschen waren Zweige abgebrochen, und man sah tiefe Stiefelabdrücke und dazwischen eine Schleifspur.
Jemand hatte einen Körper rückwärts die Böschung hinaufgezogen. Es waren jedoch nur die Abdrücke eines Mannes zu erkennen. Hatte Jeb im Karren gewartet, während Dale ihn zu den Gleisen schleifte, weil Tom bei der Schlägerei sein Knie verletzt hatte?
Tom ging neben der Pfütze in die Hocke. In den Furchen, die die Räder hinterlassen hatten, sah man den Abdruck eines Nagels, mit dem die Eisenbeschläge am Holz festgemacht wurden. Neben dem Nagelabdruck waren zwei kleine halbmondförmige Risse zu erkennen, wo die Beschläge offensichtlich schadhaft waren. Falls er demnächst über einen Karren stolpern sollte, würde er sich die Nägel genauer ansehen.
Trotzdem hatte Tom keinen Zweifel, wer ihn auf die Schienen gelegt hatte. Nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg würde er nach Dale und Jeb suchen. Er hatte sich verprügeln lassen wie ein dämlicher Bauernbursche, und das würde ihm nicht noch einmal passieren.
Mach mit ihm, was du mit seinem Hündchen gemacht hast, Dale!
Tom spürte die nackte Wut in sich aufwallen.
»Wir reiten los, Tom Sawyer. Familie warten auf Shipshewano.«
Tom wandte den Blick von den Furchen in der Pfütze und stieg auf das Pony, das Shipshewano ihm gegeben hatte. Bei ihrem Aufbruch vor einer halben Stunde hatte Tom versucht, auf den Hengst von Shipshewanos ältestem Sohn zu steigen. Doch die Indianer ritten ohne Sattel, und als Tom das Bein über den Rücken des großen Pferdes schwingen wollte, war ihm der Schmerz in die Seite und ins Knie gefahren, und er hatte sich setzen müssen. Er wollte es erneut probieren, doch der Häuptling hatte Pepinawah etwas zugerufen, und der kleine Junge brachte ihm ein Pony.
Beschämt war Tom auf das kleine Pferd gestiegen, indem er sich quer über den Rücken des Ponys legte und dann langsam ein Bein über das Tier hob. Seine Füße schleiften fast am Boden, und das Tier stöhnte unter der Last. Die ersten Minuten auf dem Pony waren die Hölle gewesen, und auch als Tom das Tier nun neben Shipshewano auf dem kleinen Pfad zwischen Weiher und Schienen entlangtrieb, tat ihm jeder Knochen weh.
Doch es war besser als gestern. Viel besser.
Er wusste nicht, ob er in dieser Nacht geschlafen hatte; die Bilder am Lagerfeuer waren verschwommen zwischen Wirklichkeit, Traum und Rausch. Letztlich war es ihm egal, er fühlte sich trotz der Schmerzen erfrischt und bereit zu tun, was zu tun war.
Während sie schweigend nebeneinanderher ritten und die Pferde durch Baumwollplantagen und Hanffelder trieben und danach über den bewaldeten Hydesburg Hill mit der felsigen Kuppe im Westen von St. Petersburg, durch den der Eisenbahntunnel verlief, musste er immerzu an Huck denken und daran, wie es diesem wohl ergangen war. Ob er sich wohl weiter erholt hatte? Würde Tom ihm Fragen stellen können? Fragen zu dem Tag, an dem Polly ermordet worden war? Huck hatte gesagt, er solle noch mal mit Sally Austin reden, und genau das
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