Der Mann, der sein Leben vergaß
Manolda sarkastisch, als sie allein waren. »Doktor Albez ist also nicht vor zwei Jahren gestorben?«
»Doch!« lachte Destilliano und trank einen kräftigen Schluck. »Ich stellte ja den Totenschein aus!«
»Aber Doktor Albez ist doch jetzt hier in Amsterdam!«
»Nein – Doktor Albez ist Pieter van Brouken!«
Manolda starrte seinen Freund an. »Einer von uns ist verrückt!« rief er. »Wieso nennst du ihn dann Doktor Albez?!«
»Weil Pieter van Brouken das Leben des Doktor Albez lebt.« Und da Destilliano sah, daß Manolda ihn nicht verstand, dozierte er: »Wir haben es hier mit einem vollendeten und einmalig klaren Fall von Bewußtseinsspaltung zu tun. Es gibt besonders sensible Menschen, deren Personen- und Umweltzentrum im Gehirn mit dem eigenen Ich nur lose verbunden sind und die durch einen physischen oder psychologischen Anstoß derart gestört, verwirrt oder anders verbunden werden können, daß sie ihr Ich ablegen und als eine völlig andere Person mit gleichem, wachem Bewußtsein weiterleben. Das Bewußtsein spaltet sich also, die Nerven des Personen- und Umweltkomplexes haben sich anders gekoppelt. Wieso es nun kommt, daß ein solcher Mensch plötzlich eine fremde Sprache als Muttersprache spricht, ja, sogar das Leben eines Gestorbenen vom Tage dessen Todes ab weiterlebt – wie es hier der Fall ist –, daß also die Seele – nennen wir es so – des Toten in der Person des anderen wiederkehrt, und zwar mit dem Phänomen der Rückerinnerung –, das ist das bisher nicht gelöste, geheimnisvolle und phantastische Rätsel, an dem die Wissenschaft bis heute ihre Grenzen gefunden hat. Die Anthroposophen nennen es die Wiedergeburt aus dem vorherigen Leben, das unnatürlich abschloß und laut unergründlicher Gesetze zu Ende in einem anderen Körper gelebt werden muß! Dieser Pieter van Brouken lebt als zweites Ich in der Spaltung seines Bewußtseins das Leben Doktor Albez'! Er ist also dieser Doktor Albez so lange, bis ein besonderer Anlaß die Spaltung aufhebt und Doktor Albez wieder erwacht als Pieter van Brouken.«
»Phantastisch«, flüsterte Manolda. »Einfach phantastisch! Ein Toter lebt weiter!«
»Seine Seele in einem anderen!«
»Also gibt es doch eine Seelenwanderung?«
Destilliano zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Hier fängt die Gottheit an – wir Menschen stehen vor einem Rätsel.«
»Und was willst du mit Pieter van … mit Doktor Albez machen?« fragte Manolda leise.
Der Professor sann einen Augenblick nach und blickte dann auf seine Hände.
»Ich nehme ihn mit nach Lissabon«, sagte er fest. »Er kann uns sehr nützen. Doktor Albez ist gesetzlich tot« – er lächelte –, »und ein Toter kann nicht verhaftet werden, wenn es darauf ankommt …«
Manolda hielt den Atem an.
»Du willst ihn in den ›Export‹ bringen?«
»Ich will es versuchen. Fängt man ihn, so ist er Pieter van Brouken, wahnsinnig und damit für nichts verantwortlich. Er kann als Doktor Albez einen Mord begehen – sein Körper, eben Peter van Brouken, kann nicht bestraft werden! Das ist eine einmalige Gelegenheit, etwas Strafbares nicht strafbar zu machen. Denn seine Bewußtseinsspaltung, das Weiterleben des gestorbenen Doktor Albez, ist ein seltener, in der Welt bisher nur dreimal bekannter pathologischer Akt, ein Unterbewußtwahnsinn, eine psychopathische Hypnose: Er ist der Mann, der sein Leben vergaß!«
»Und wenn er plötzlich aufwacht, wenn sein reales Bewußtsein wiederkommt, wenn er wieder Pieter van Brouken wird?«
Manoldas Blicke hingen an Destillianos Lippen.
»Dann wird er unter Hypnose weiterleben … oder er wird schweigen müssen«, antwortete der Professor leise. »Völlig schweigen. Bei Teneriffa gibt es heute Haie …«
Manolda senkte die Augen. Er fühlte wieder, wie er fror und wagte nicht mehr, in diese kalten Augen vor ihm aufzublicken.
Und das Leben war ihm nur noch ein großes, großes Rätsel.
3
Langsam, gezogen von den kleinen, wendigen, anhaltend tutenden Schleppern, fuhr die ›España‹ an einem frühen Morgen des Juli 1923 in die breite Bai von Lissabon, die Rada de Lisboa, ein.
Professor Destilliano und Dr. Albez standen an Deck der Kabinen 1. Klasse und blickten hinüber auf die Stadt zwischen den sieben Hügeln.
»Ich glaube, ich sehe den Chiado«, sagte Dr. Albez gerade und deutete mit der rechten Hand quer über Lissabon. »Und dort – täusche ich mich nicht – taucht auch unser Monte do Castello aus dem Dunst!«
Professor Destilliano
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