Der Mann, der sein Leben vergaß
sondern mußte sich heute sagen, daß sich der grandiose Rauschgiftschmuggel trotz aller Abwehrmaßnahmen, trotz aller Überwachung der Land- und Seegrenzen an Umfang verdreifacht hatte. Aus Amsterdam, Bilbao, Antwerpen, Hamburg, Bremen, Kopenhagen, Oslo, Stockholm, aus Athen, Syrakus, Istanbul, ja sogar aus Kairo trafen Alarmnachrichten ein, die den Chefkommissar zu einem brüllenden Berserker werden ließen.
»Hier!« schrie er gerade und warf eine Handvoll Radiogramme auf den breiten, mit Papier überladenen Schreibtisch. »Hier, sehen Sie sich das an! Aus Belgrad und Algier melden sie sich auch! Kokain in rauhen Mengen! Kisten mit portugiesischen Zeichen! Bei Razzia in Fez allein 350 unheilbare Giftsüchtige! Packungen, die man fand, kamen aus Portugal!« Er brüllte. »Eine Schweinerei ist das! Seid ihr denn alle Holzköpfe?! Habe ich nur Idioten als Detektive?! Ich will etwas sehen – eine Spur nur, einen Anhaltspunkt, ein Licht – das genügt mir schon! Ich will wissen, wo ich den Hebel ansetzen kann!«
Primo Calbez, Portugals berühmte ›Spürnase‹, krauste die Stirn und wiegte den schwarzlockigen Kopf hin und her.
»Eine unangenehme Sache, gebe ich zu! Aber was soll man machen? Die Kokainburschen sind mit allen Ölen gesalbt! Ich hätte schon eine Spur, aber …«
»Was aber?!!« Selvano sprang auf. »Mensch, Calbez, reden Sie doch! Sie haben etwas entdeckt?!«
»Entdeckt? So kann man das nicht nennen! Ich habe etwas festgestellt!«
»Was?!! – Sie haben eine Art, die einen wahnsinnig macht!«
Calbez lächelte verzeihend.
»Ich habe lediglich festgestellt, daß bei Professor Destilliano in der Rua do Monte Castello seit über einem Jahr ein uns unbekannter Mann wohnt! Er ist auch nicht gemeldet!«
Chefkommissar Selvano verzog das Gesicht, als habe er in eine unreife Zitrone gebissen. Heftig winkte er ab.
»Calbez, Sie pietätloses Geschöpf! Sie wollen doch nicht etwa Portugals berühmtesten Bakteriologen des Kokainschmuggels bezichtigen?! Von mir aus kann er zehn Jahre lang Besuch haben, ohne daß ich auf den Gedanken komme, auch nur eine Sekunde etwas Verbotenes dabei zu finden!«
»Der Gast scheint der Liebhaber der netten Anita Almiranda zu sein«, bemerkte Primo Calbez trocken. »Man sah sie öfters per Arm in der Stadt.«
»Eifersüchtig?« Selvano lächelte schwach. »Calbez, Sie lassen nach! Sie fangen schon an, Privatleben mit Beruf zu vermischen! Das ist der Anfang der Zylinderlaufbahn! Im übrigen ist damit die Begründung des langen Aufenthaltes dieses Herrn klar! Ein Alibi wie in einem Roman! Außerdem ist Professor Destilliano so korrekt, daß er mich über diesen Besuch längst orientiert hat. Der Herr kommt aus Spanien und heißt« – er dachte einen Augenblick nach –, »na, wie war der Name doch … ich glaube: José Biancodero oder so ähnlich. Diese ›Spur‹ war also ein Windei, Calbez!«
Der Detektiv ließ sich durch die sarkastische Art Selvanos nicht stören, sondern kramte aus seiner Aktentasche ein abgegriffenes Notizbuch hervor. Bedächtig blätterte er darin und lehnte sich dann auf seinen Stuhl zurück. Gespannt blickte ihn Selvano an. Er wußte, wenn Primo Calbez sein altes Notizbuch zog, sprudelten die Überraschungen nur so heraus.
»Zunächst möchte ich feststellen«, sagte Calbez mit ruhiger Stimme, »daß besagter José Biancodero – so heißt er wirklich, alle Achtung vor Ihrem Gedächtnis, Chef – vor über einem Jahr, im Juli 1923 nach Lissabon kam. Professor Destilliano begleitete ihn. Ich habe nachgeforscht, daß der Dampfer ›España‹ sie in Marseille aufgenommen hat.«
»Na und?«
»Biancodero stammt doch angeblich aus Sevilla!«
»Deswegen kann er doch in Marseille an Bord gehen!«
»In Marseille ist aber ein Umschlaghafen der Rauschgiftschmuggler!«
»Das war Marseille immer! Diese Kombination ist Fantasterei! Dann müßte man alle Fremden verhaften, die in Marseille an Bord eines Schiffes gehen!«
»Mag sein! Weiter! Wie kommt es, daß José Biancodero von Anita Almiranda privat Fernando genannt wird?!«
»Was?!« Selvano zuckte auf und strich sich über die Augen. Doch dann lächelte er. »Fernando, sagten Sie?«
»Ja. Ich dachte schon an einen Kosenamen. Aber das trifft hier nicht zu! Kosenamen werden aus dem Wortstamm des richtigen Namens gebildet! Anita aber nennt Ihren Freund Fernando, während sie ihn in Gegenwart Dritter mit José betitelt.«
»Vielleicht eine kleine Marotte, die Fernando schöner findet als José. Sie
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