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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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geworden, was er jetzt war? Und in welchem Zustand befand er sich? Konnte man ihm irgendwie helfen?
    Die verfügbaren Informationen, die Menge der «Daten», die man seit den ersten Anfängen seines merkwürdigen Leidens, seines «Zustandes», gesammelt hatte, halfen mir weiter und setzten mich gleichzeitig in Erstaunen. Ich stieß auf eine ausführliche Krankengeschichte, die Beschreibungen des Ausbruchs seiner Krankheit enthielt: Mit acht Jahren hatte er sehr hohes Fieber bekommen, das mit anhaltenden, immer wieder kehrenden Anfällen und dem raschen Auftreten eines Bewusstseinszustandes einherging, wie er für Hirngeschädigte oder Autisten typisch ist. (Man hatte von Anfang an nicht genau gewußt, was bei ihm eigentlich vor sich ging.)
    Der Befund der Rückenmarksflüssigkeit war im akuten Stadium der Krankheit pathologisch gewesen. Man war sich einig, daß er wahrscheinlich an einer Art Gehirnhautentzündung litt. Seine Anfälle waren verschiedener Art: petit mal, grand mal, «akinetisch» und «psychomotorisch», und gerade diese letzte Art von Anfällen ist ungeheuer komplex.
    Psychomotorische Anfälle können mit plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt und Leidenschaft und mit sonderbaren Verhaltensmustern (der sogenannten psychomotorischen Persönlichkeit) einhergehen, die auch zwischen den eigentlichen Anfällen vorhanden sind. Sie treten immer im Zusammenhang mit Störungen oder Verletzungen der Schläfenlappen auf, und eine schwere beidseitige Schläfenlappen-Störung war bei Jose durch unzählige EEGs nachgewiesen worden.
    Die Schläfenlappen sind auch der Sitz des Hörzentrums und insbesondere der Fähigkeit zur Wahrnehmung und Erzeugung von Sprache. Isabelle Rapin hatte Jose nicht nur als «autistisch» bezeichnet, sondern sich auch gefragt, ob nicht vielleicht eine durch eine Schläfenlappen-Störung hervorgerufene «verbalauditive Agnosie» vorlag - eine Unfähigkeit, Sprachlaute zuerkennen, die seine Fähigkeit beeinträchtigte, Worte zu gebrauchen und zu verstehen. Denn besonders bemerkenswert war, wie auch immer man diesen Befund beurteilte (und es wurden sowohl psychiatrische als auch neurologische Interpretationen angeboten), der Verlust oder die Regression der Sprache: Jose, der bis dahin (jedenfalls nach Aussage seiner Eltern) «normal» gewesen war, wurde mit seiner Krankheit «stumm» und sprach nicht mehr mit anderen. Eine Fähigkeit war offenbar «verschont» geblieben und sogar, vielleicht als Ausgleich, verstärkt worden: Jose zeigte eine ungewöhnliche Begeisterung und Begabung für das Malen. Das war schon in früher Kindheit zu erkennen gewesen und schien gewissermaßen in der Familie zu liegen - sein Vater hatte schon immer gern Skizzen angefertigt, und sein (erheblich) älterer Bruder war ein erfolgreicher Künstler. Mit dem Einsetzen seiner Krankheit, mit seinen scheinbar unkontrollierbaren Anfällen (an manchen Tagen überfielen ihn zwanzig bis dreißig schwere Anfälle, und außerdem hatte er zahllose «kleine Anfälle», fiel zu Boden oder hatte «Blackouts» und «Traumzustände»), mit dem Verlust der Sprache und mit seiner allgemeinen intellektuellen und emotionalen «Regression» befand sich Jose in einer seltsamen und tragischen Situation. Er wurde von der Schule genommen und noch eine Zeitlang von einem Privatlehrer unterrichtet. Dann gab man ihn als «vollen» Epileptiker, als autistisches, vielleicht aphasisches, retardiertes Kind, ganz in die Obhut seiner Familie. Man war der Meinung, er sei unerziehbar, nicht zu behandeln, ein hoffnungsloser Fall. Mit neun Jahren «stieg er aus» - aus der Schule, aus der Gesellschaft, aus fast allem, was für ein normales Kind «Realität» bedeutet.
    Fünfzehn Jahre lang kam er kaum aus dem Haus, angeblich wegen seiner «widerspenstigen Anfälle». Seine Mutter behauptete, sie habe es nicht gewagt, ihn hinauszulassen, weil er dann täglich zwanzig, dreißig Anfälle auf offener Straße bekam. Man versuchte es mit allen möglichen krampflösenden Mitteln, aber seine Epilepsie schien «inkurabel» - jedenfalls war das die Meinung, die in der Krankengeschichte zum Ausdruck kam. Jose hatte zwar Geschwister, war aber mit Abstand der Jüngste - das «große Kind» einer Frau, die auf die Fünfzig zuging.
    Wir wissen viel zuwenig über diese Jahre. Jose verschwand praktisch und wäre vielleicht für immer in seinem Kellerraum geblieben, wo er immer wieder in krampfartige Anfälle verfiel, wenn er nicht vor kurzem einen gewalttätigen

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