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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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und aufgeblüht. Es gab noch andere Einzelheiten, die ich war mir nicht sicher - symbolischer Natur sein konnten. Die am meisten ins Auge springende, bedeutsamste Veränderung war jedoch, daß Jose aus dem Winter Frühling gemacht hatte.

    Jetzt endlich begann er zu sprechen - obwohl «sprechen» ein viel zu großes Wort für die seltsam klingenden, gestammelten und weitgehend unverständlichen Äußerungen ist, die er her vorstieß und die ihn gelegentlich ebenso überraschten wie uns - denn wir alle hatten ihn für gänzlich und unheilbar stumm gehalten, sei es aus Unfähigkeit oder Unwilligkeit oder beidem, und er hatte unsere Einschätzung geteilt. Er hatte auch nie den Versuch unternommen zu sprechen, und auch hier konnten wir unmöglich sagen, wieviel davon «organisch» bedingt oder wie sehr es eine Frage der «Motivation» war. Wir hatten seine Schläfenlappen-Störungen reduziert, aber nicht beseitigt - seine EEGs waren nie normal; sie zeigten immer noch Allgemeinveränderungen im unteren Spannungsbereich, gelegentliche Spitzen, Dysrhythmien und langsame Wellen. Verglichen mit den Werten, die man nach seiner Einlieferung festgestellt hatte, waren sie jedoch deutlich verbessert. Wir konnten zwar die krampfartigen Ausbrüche beseitigen, nicht aber die Schäden, die er bereits davongetragen hatte.
    Es war unbestreitbar, daß es uns gelungen war, seine physiologische Sprachbefähigung zu verbessern, wenn auch seine Fähigkeit, Sprache einzusetzen, zu verstehen und zu erkennen, nach wie vor eingeschränkt war und er mit dieser Behinderung zweifellos immer würde leben müssen. Aber - und das war ebenso wichtiger bemühte sich jetzt, seine Fähigkeit wiederzuerlangen, zu sprechen und Sprache zu verstehen (und dabei wurde er von uns allen, besonders aber von seinem Sprachtherapeuten, unterstützt), während er sein Unvermö-gen, sich sprachlich auszudrücken, zuvor mutlos, mit einer geradezu masochistischen Ergebenheit hingenommen und sich geweigert hatte, verbal oder auf andere Weise zu kommunizieren. Seine Sprachbehinderung hatte sich zuvor mit seiner Weige rung zu sprechen verbunden und damit die nachteiligen Auswirkungen seiner Krankheit verstärkt, und umgekehrt wirkten sich jetzt die Wiedererlangung seiner Sprechfähigkeit und seine Sprechversuche positiv auf seine beginnende Genesung aus. Selbst den größten Optimisten unter uns war jedoch klar, daß Jose nie eine auch nur annähernd normale Sprachkompetenz erlangen würde, daß Sprache für ihn nie ein wirkliches Ausdrucksmittel sein, sondern lediglich dazu dienen würde, einfache Bedürfnisse zu äußern. Auch er selbst schien das zu spüren und bemühte sich, während er um die Wiedererlangung der Sprache kämpfte, um so mehr, sich durch Zeichen auszudrücken.
    Eine letzte Episode: Jose war von der Aufnahmestation mit ihrer angespannten Atmosphäre in eine ruhigere Spezialabteilung verlegt worden, die, im Gegensatz zum Rest der Anstalt, mehr einem Heim als einem Gefängnis glich. Diese Abteilung verfügte über zahlreiches und gut ausgebildetes Personal. Sie war, wie Bettelheim sagen würde, eine «Heimstatt des Herzens» für autistische Patienten, die eben jene liebevolle Zuwendung brauchen, die ihnen nur die wenigsten Anstalten bieten können. Als ich diese neue Station betrat, winkte Jose mir lebhaft zu, sobald er mich sah - es war eine offene, nach außen gerichtete Geste. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er so etwas vorher schon einmal getan hatte. Er zeigte auf die verschlossene Tür. Er wollte, daß ich sie öffnete, er wollte hinaus.
    Er ging voraus, die Treppe hinunter in den überwucherten, sonnendurchfluteten Garten. Soweit ich wußte, war er seit seinem achten Lebensjahr, seit dem Beginn seiner Krankheit und seines Rückzugs aus dem Leben, nicht mehr freiwillig hinaus gegangen.
    Neu war auch, daß ich ihm keinen Stift anzubieten brauchte - er nahm ihn sich selbst. Während wir im Garten umhergingen, betrachtete Jose die Bäume und den Himmel, hielt aber meistens den Blick auf den Boden gerichtet, auf die roten und gelben Klee- und Löwenzahnblüten. Er hatte ein sehr gutes Auge für Pflanzenformen und Farben, entdeckte schnell eine seltene weiße Kleeblüte, die er pflückte, und kurz darauf ein noch selteneres vierblättriges Kleeblatt. Er fand sieben verschiedene Grasarten und schien jede wie einen Freund zu begrüßen. Mehr als alles andere aber entzückten ihn die großen gelben Löwenzahnblüten, die voll aufgeblüht waren und sich

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