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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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in USA» fehlte), und zwar nicht nur «die Uhrzeit» (auch sie stimmte: 11 Uhr 31), sondern auch den kleinen Sekundenzeiger und nicht zuletzt den Kronenaufzug und die trapezförmige Öse, an der die Uhrkette befestigt wird. Diese Öse war erstaunlich vergrößert dargestellt, während alles andere richtig proportioniert war. Erst als ich genauer hinsah, bemerkte ich, daß die Ziffern sich in Größe, Form und Gestaltung unterschieden - manche waren fett, manche mager; manche standen dort, wo sie hingehörten, andere waren eingeschoben; manche waren schlicht, andere verziert. Und dem Sekundenzeiger, der beim Original kaum zu erkennen ist, hatte Jose eine besondere Bedeutung beigemessen, ähnlich etwa der, die die kleinen inneren Zeiger bei einer Sternenuhr oder einem Astrolabium haben.
    Die allgemeine Auffassung des Gegenstandes, das «Gefühl» für ihn, hatte Jose treffend herausgearbeitet - und das war um so verblüffender, als er, wie der Pfleger gesagt hatte, keinerlei Vorstellung von Zeit besaß. Andererseits lag hier eine ungewöhnliche Mischung aus peinlicher, ja geradezu zwanghafter Genauigkeit und seltsamen (und, wie ich fand, komischen) Verzierungen und Abänderungen vor.
    Ich stand vor einem Rätsel, das mich auch auf dem Heim weg nicht losließ. Ein «Idiot»? Ein Autist? Nein, hier war irgend etwas anderes im Spiel.
    Ich wurde nicht gebeten, Jose noch einmal aufzusuchen. Das erste Mal hatte es sich um einen Notfall gehandelt. Man hatte mich an einem Sonntagabend gebeten zu kommen, nachdem ich bereits nachmittags telefonisch krampflösende Mittel verschrieben hatte, andere als die, mit denen Jose bis dahin behandelt worden war. Jetzt, da man seine Anfälle «unter Kontrolle» hatte, wurde der fachliche Rat eines Neurologen nicht mehr benötigt. Doch die Fragen, die die Zeichnung aufgeworfen hatte, ließen mir keine Ruhe mehr. Ich hatte das Gefühl, daß hier ein ungelöstes Rätsel auf mich wartete. Ich mußte ihn wiedersehen. Also bat ich darum, Jose nochmals untersuchen und seine ganze Krankengeschichte einsehen zu dürfen - beim erstenmal hatte man mir lediglich einen wenig informativen Überblick gegeben.
    Jose wirkte gleichgültig, als er die Klinik betrat - er hatte keine Ahnung, warum er herbestellt worden war (und vielleicht war ihm das auch egal) -, aber als er mich sah, begann er zu lächeln. Die indifferente, teilnahmslose Maske, die ich in Erinnerung hatte, fiel von ihm ab. Dieses plötzliche, scheue Lächeln war wie ein Lichtstrahl, der durch einen Tür spalt fällt.
    «Ich habe über dich nachgedacht, Jose», sagte ich. Er mochte den Sinn meiner Worte nicht verstehen, aber er verstand meinen Tonfall. «Ich möchte noch mehr Zeichnungen sehen.» Mit ermunterndem Blick gab ich ihm meinen Bleistift.
    Was sollte er diesmal zeichnen? Ich hatte wie immer ein Exemplar von Arizona Highways dabei, einem reich illustrierten Magazin, das mir besonders gut gefällt und das ich zu Testzwecken immer zur Hand habe. Das Umschlagbild zeigte eine idyllische Szene: Zwei Kanufahrer paddeln auf einem See, im Hintergrund Berge und ein Sonnenuntergang.
     
     
     
    Jose begann mit dem Vordergrund, der sich fast schwarz gegen das Wasser abhob, zeichnete die Umrisse mit äußerster Genauigkeit und fing dann an, sie auszumalen. Das war mühsam mit dem Bleistift. «Laß das aus», sagte ich und zeigte auf das Foto. «Mach mit dem Boot weiter. » Rasch und ohne zu zögern zeichnete Jose die Umrisse des Kanus und der beiden Paddler. Er betrachtete das Foto, prägte es sich ein und sah dann weg. Darauf machte er sich daran, die Umrisse mit der flachen Seite des Bleistifts auszumalen.
     
     
     
    Auch diesmal - und sogar noch mehr als zuvor, denn hier ging es ja um eine ganze, zusammenhängende Szenerie - verwunderte es mich, wie rasch und genau er zeichnete, und dies um so mehr, als Jose die Vorlage betrachtet und dann, nachdem er sie sich eingeprägt hatte, den Blick abgewendet hatte. Das deutete darauf hin, daß er nicht lediglich etwas abmalte - «Er ist nichts weiter als ein lebender Fotokopierer», hatte der Pfleger beim erstenmal gesagt-, sondern die Szene als ein Bild in sich aufgenommen hatte. Zu seinem verblüffenden Talent, etwas abzumalen, trat also eine ebenso verblüffende Wahrnehmungsfähigkeit. Sein Bild besaß nämlich eine dramatische Qualität, die in der Vorlage fehlte. Die kleinen menschlichen Gestalten waren vergrößert und wirkten intensiver und lebendiger. Es ging etwas Absichtsvolles,

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