Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
ständiges Beurteilen und Fühlen ein. Wenn diese Elemente fehlen, verwandeln wir uns, wie Dr. P., in Computer. Darüber hinaus reduzieren wir die kognitiven Wissenschaften, wenn wir das Fühlen und Urteilen, das Persönliche also, aus ihnen verbannen, zu etwas, das ebenso unvollständig ist wie Dr. P. - und gleichermaßen reduzieren wir unsere Wahrnehmung des Konkreten und Realen.
Infolge einer komischen und beklagenswerten Analogie hat unsere gegenwärtige kognitive Neurologie und Psychologie sehr viel Ähnlichkeit mit dem armen Dr. P.! Wir brauchen das Konkrete und Reale ebensosehr wie er, und gleich ihm sind wir nicht in der Lage, es zu erkennen. Unsere kognitiven Wissenschaften leiden selbst unter einer Agnosie, die sich von der Dr. P. s nicht wesentlich unterscheidet. Er mag daher als Warnung und Gleichnis dienen: Hier können wir sehen, was mit einer Wissenschaft geschieht, die das Urteilende, das Besondere, das Persönliche meidet und sich ganz dem Abstrakten und Berechenbaren zuwendet.
Ich habe es immer sehr bedauert, daß ich, aufgrund von Umständen, die sich meinem Einfluß entzogen, Dr. P. s Fall nicht weiter verfolgen konnte. Wie gern hätte ich ihn über einen längeren Zeitraum in der beschriebenen Weise beobachtet und untersucht und die wirkliche Pathologie seiner Störung erforscht!
Als Arzt fürchtet man immer, es mit einem «einmaligen» Fall zu tun zu haben, besonders wenn er so außerordentliche Elemente enthält wie der von Dr. P. Daher war ich sehr interessiert, erfreut und auch erleichtert, als ich beim Studium des Jahrgangs 1956 der Zeitschrift Brain zufällig die detaillierte Beschreibung eines auf geradezu komische Weise ähnlichen Falles las - ähnlich, ja identisch in neuropsychologischer und phänomenologischer Hinsicht, obwohl die zugrunde liegende Pathologie (eine akute Kopfverletzung) und alle persönlichen Begleitumstände völlig anders geartet waren. Die Autoren bezeichnen ihren Fall als «einzigartig in der dokumentierten Geschichte dieser Art von Störungen» und waren, wie ich, offenbar höchst erstaunt über ihre Entdeckung. [4]
Der interessierte Leser sei auf den Aufsatz von Macrae und Trolle (1956) verwiesen, den ich im folgenden, mit Zitaten aus dem Original, kurz zusammenfassen werde.
Bei ihrem Patienten handelte es sich um einen jungen Mann von zweiunddreißig Jahren, der nach einer dreiwöchigen Bewußtlosigkeit infolge eines schweren Autounfalls «ausschließlich über sein Unvermögen klagte, Gesichter, selbst die seiner Frau und seiner Kinder, zu erkennen». Kein einziges Gesicht war ihm «vertraut», aber es gab drei - es handelte sich um Kollegen -, die er identifizieren konnte: Einer hatte einen Augen-Tic, der andere ein großes Muttermal auf seiner Wange,
und den dritten erkannte er, «weil er so groß und schlank war, daß er sich von allen anderen unterschied». Macrae und Trolle kommen zu dem Schluß, daß alle drei jeweils «einzig und allein aufgrund des erwähnten auffallenden Merkmals wieder erkannt wurden». Sonst erkannte der Patient (wie Dr. P.) vertraute Menschen nur an ihren Stimmen.
Er hatte sogar Schwierigkeiten, sein eigenes Spiegelbild zu erkennen. Macrae und Trolle führen dies im Detail aus: «In der ersten Phase der Rekonvaleszenz zweifelte er, besonders beim Rasieren, oft daran, ob das Gesicht im Spiegel tatsächlich sein eigenes sei, und obwohl er wußte, daß es, schon aus rein physischen Gründen, niemand anderem gehören könne, zog er mehrmals eine Grimasse oder streckte seine Zunge heraus, nur um sicher zu sein. Durch eingehendes Betrachten seines Spiegelbildes begann er es langsam zu erkennen, allerdings ‹nicht im Nu› wie früher, sondern indirekt folgernd: am Haar, an den Umrissen des Gesichtes und an zwei kleinen Muttermalen auf seiner linken Wange. »
Im allgemeinen erkannte er nichts «mit einem Blick», sondern stellte aufgrund von ein oder zwei besonderen Merkmalen Vermutungen an, die bisweilen geradezu absurd falsch waren. Vor allem, bemerken die Autoren, hatte er Probleme mit allem Lebendigen.
Andererseits bereitete ihm das Identifizieren einfacher, schematischer Objekte - Schere, Uhr, Schlüssel usw. - keinerlei Schwierigkeiten. Macrae und Trolle schreiben auch: «Sein topographisches Gedächtnis war sonderbar: Es ergab sich das scheinbare Paradoxon, daß er sich auf dem Weg von seinem Haus zur Klinik und in der Klinik selbst zurechtfand, die Namen der Straßen auf dem Weg jedoch nicht nennen konnte [im
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