Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
älterer Bruder besuchte damals eine Wirtschaftsfachschule und war mit einem Mädchen, einer «wirklichen Schönheit», aus Oregon verlobt.
    Während er sich erinnerte, sein Leben noch einmal durchlebte, war Jimmie voller Schwung; er schien nicht von der Vergangenheit, sondern von der Gegenwart zu sprechen, und ich war sehr verblüfft über den Tempuswechsel in seiner Schilderung, als er nach der Beschreibung seiner Schuljahre auf seine Zeit in der Marine zu sprechen kam. Er hatte sich der Vergangenheitsform bedient, gebrauchte aber nun das Präsens - und zwar (so schien es mir) nicht einfach das formale oder fiktive Präsens der Erinnerung, sondern das tatsächliche Präsens der unmittelbaren Erfahrung.
    Mir kam plötzlich ein unwahrscheinlicher Verdacht. «Welches Jahr haben wir, Mr. G.?» fragte ich ihn und versuchte, meine Verwunderung hinter einer gespielten Gleichgültigkeit zu verbergen.
    «45, natürlich. Wie meinen Sie das?» Er hielt kurz inne und fuhr fort: «Wir haben den Krieg gewonnen, Roosevelt ist tot, und Truman schmeißt den Laden. Vor uns liegen große Zeiten. »
    «Und Sie, Jimmie - wie alt sind Sie?»
    Sonderbarerweise war er einen Moment lang unsicher und zögerte mit seiner Antwort, als müsse er erst nachrechnen. «Tja, ich schätze, ich bin neunzehn, Doc. Mein nächster Geburtstag ist mein zwanzigster. »
    Ich sah den grauhaarigen Mann an, der vor mir saß, und mich überkam ein Impuls, den ich mir nie verziehen habe. Ich tat etwas, das äußerst grausam war - oder vielmehr gewesen wäre, wenn ich nicht hätte ausschließen können, daß Jimmie sich später daran erinnern würde.
    «Hier», sagte ich und hielt ihm einen Spiegel vor. «Was sehen Sie da? Ist das ein Neunzehnjähriger?»
    Er wurde bleich, und seine Finger krallten sich in die Arm lehnen des Sessels. «Gott im Himmel», flüsterte er, «was ist los? Was ist mit mir passiert? Ist das ein Alptraum? Bin ich verrückt? Soll das ein Witz sein?» Er geriet in Panik.
    «Es ist alles in Ordnung, Jimmie», sagte ich beruhigend. «Es war nur ein Irrtum. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sehen Sie doch mal -» ich trat mit ihm ans Fenster - «ist es nicht ein wunderschöner Frühlingstag? Und da unten spielen Kinder Baseball. » Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, und er begann zu lächeln. Ich schlich mich davon und nahm den unseligen Spiegel mit.
    Zwei Minuten später kehrte ich zurück. Jimmie stand immer noch am Fenster und sah mit Vergnügen den Kindern beim Baseballspielen zu. Als ich die Tür öffnete, fuhr er herum und strahlte mich an.
    «Hallo, Doc!» begrüßte er mich. «Was für ein herrlicher Morgen! Sie wollten mit mir sprechen - soll ich mich hierhin setzen?» Sein offener Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, daß er mich schon einmal gesehen hatte.
    «Sind wir uns nicht schon einmal begegnet, Mr. G.?» fragte ich beiläufig.
    «Nein, nicht daß ich wüßte. Sie haben einen ganz schönen Bart - den würd ich bestimmt nicht vergessen, Doc!» «Warum nennen Sie mich ‹Doc›?»
    «Na ja, Sie sind doch einer, oder nicht?»
    «Ja, schon, aber wie können Sie das wissen, wo wir uns doch noch nie begegnet sind?»
    «Sie reden wie ein Arzt. Ich sehe, daß Sie einer sind. »
    «Sie haben recht: Ich bin Arzt. Ich bin hier der Neurologe. » «Neurologe? Ist irgendwas mit meinen Nerven nicht in Ordnung? Und ‹hier›? Wo ist das - ‹hier›? Wo bin ich eigentlich?»
    «Das wollte ich Sie gerade fragen. Was glauben Sie, wo Sie sind? »
    «Na ja. . . überall Betten und Patienten - sieht aus wie eine Art Krankenhaus. Aber was soll ich in einem Krankenhaus, bei all diesen alten Leuten? Ich fühle mich prima, ich könnte Bäume ausreißen. Vielleicht arbeite ich hier... Arbeite ich hier? Was ist meine Arbeit? ... Nein, Sie schütteln den Kopf, ich sehe es Ihren Augen an, daß ich nicht hier arbeite. Also hat man mich hierher gebracht. Bin ich ein Patient, bin ich krank und weiß es nur nicht, Doc? Das ist verrückt, das macht mir Angst... Ist das Ganze vielleicht ein Witz?»
    «Sie wissen also nicht, warum Sie hier sind? Sie wissen es wirklich nicht? Erinnern Sie sich, daß Sie mir von Ihrer Kindheit erzählt haben, wie Sie in Connecticut aufgewachsen sind und daß Sie Funker auf U-Booten waren? Und daß Ihr Bruder mit einem Mädchen aus Oregon verlobt ist?»
    «Ja, das stimmt. Aber ich habe es Ihnen nicht erzählt, ich habe Sie noch nie in meinem Leben gesehen. Das müssen Sie in dem Bericht über mich gelesen haben.

Weitere Kostenlose Bücher