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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Gegensatz zu Dr. P. litt er auch an einer Aphasie] und anscheinend nicht in der Lage war, sich die Topographie bildlich vorzustellen. »
    Offensichtlich war auch die bildliche Erinnerung an Menschen, selbst solche, die er lange vor seinem Unfall gekannt hatte, wesentlich beeinträchtigt - er konnte sich an ihr Verhalten, manchmal auch an gewisse auffallende Verhaltensweisen erinnern, nicht aber an ihre Erscheinung oder ihr Gesicht. Bei näherem Befragen stellte sich auch heraus, daß seine Träume keine visuellen Eindrücke mehr enthielten. Bei diesem Patienten waren also, wie bei Dr. P., nicht nur die visuelle Wahrnehmung, sondern auch die visuelle Imagination und Erinnerung, die Grundlage des visuellen Vorstellungsvermögens, stark in Mitleidenschaft gezogen - zumindest insofern sie sich auf das Persönliche, das Vertraute, das Konkrete bezog.
    Noch eine letzte amüsante Anmerkung: Während Dr. P. seine Frau gelegentlich mit einem Hut verwechselte, brauchte Macraes Patient, der ebenfalls seine Frau nicht erkennen konnte, ein visuelles Kennzeichen, um sie zu identifizieren - «ein auffallendes Kleidungsstück, zum Beispiel einen großen Hut».
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Der verlorene Seemann 
    Man muß erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren,und sei's nur stückweise, um sich darüber klarzuwerden, daß das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben ... Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts ... (Ich kann nur auf die retrograde Amnesie warten, die ein ganzes Leben auslöschen kann, wie bei meiner Mutter... )
    Luis BUNUEL
     
    Dieses eindrucksvolle und beängstigende Zitat aus Bunuels Memoiren Mein letzter Seufzer) wirft grundlegende Fragen klinischer, praktischer, existentieller, philosophischer Natur auf. Was für ein Leben (wenn man es so nennen kann), was für ein Bild der Welt, was für ein Selbst kann sich ein Mensch bewahren, der den größten Teil seiner Erinnerung und damit seine Vergangenheit, seinen Ankerplatz im Meer der Zeit, verloren hat?
    Als ich diesen Abschnitt in Bunuels Buch las, dachte ich so fort an einen meiner Patienten: Jimmie G., ein charmanter,
    intelligenter Mann ohne Gedächtnis, wurde im Frühjahr 1975 in unser «Heim für die Alten» in der Nähe von New York eingeliefert. Auf dem Überweisungsschein stand der rätselhafte Eintrag: «Demenz -hilflos, verwirrt, desorientiert. » [5]
     
    Jimmie sah gut aus und hatte lockiges, graues Haar. Er war neunundvierzig Jahre alt, ein aufgeschlossener, freundlicher, warmherziger und körperlich gesunder Mann.
    «Hallo, Doc!» begrüßte er mich. «Herrlicher Morgen, was? Soll ich mich hierhin setzen?» Er hatte eine herzliche Art, war sehr gesprächig und bereit, alle Fragen zu beantworten. Er stellte sich mir vor und nannte sein Geburtsdatum und den Namen der kleinen Stadt in Connecticut, in der er geboren war. Er beschrieb das Städtchen in liebevollen Details und zeichnete sogar eine Karte, schilderte mir die Häuser, in denen seine Familie gelebt hatte, und konnte sich selbst an die Telefonnummern noch erinnern. Er erzählte von der Schule und seiner Schulzeit, von den Freunden, die er gehabt hatte, und von seiner besonderen Vorliebe für Mathematik und Naturwissenschaften. Er sprach mit Begeisterung von seiner Zeit in der Marine - er war siebzehn gewesen und hatte die High-School gerade abgeschlossen, als er 1943 eingezogen worden war. Mit seiner Begabung für alles Technische hatte er sich als «Naturtalent» für Radio und Elektronik erwiesen, und nach einem Schnellkurs in Texas war er Hilfsfunker an Bord eines U-Bootes geworden. Er wußte noch die Namen verschiedener U-Boote, auf denen er gedient hatte, ihre Einsätze, ihre Heimathäfen, die Namen seiner Kameraden. Er beherrschte die Morsezeichen und konnte immer noch fließend morsen und blind maschineschreiben. Es war eine erfüllte und interessante Zeit, an die er sich lebhaft in allen Einzelheiten erinnerte und an die er gern zurückdachte. Aber dann setzte sein Gedächtnis aus irgendeinem Grund aus. Er erinnerte sich an seine Marinezeit, das Ende des Krieges und seine Pläne für die Zukunft so deutlich, daß ich den Eindruck hatte, er durchlebe das alles aufs neue. In der Marine hatte es ihm gefallen, und er hatte mit dem Gedanken gespielt, sich weiter zu verpflichten, aber da den Kriegsteilnehmern ein Stipendium zustand, hatte er gedacht, es sei das beste, auf ein College zu gehen. Sein

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