Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
»
    «Na gut», sagte ich, «ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen. Ein Mann geht zum Arzt und klagt über Gedächtnislücken. Der Arzt stellt ihm ein paar Routinefragen und sagt dann: «Na, und Ihre Gedächtnislücken? »-«Was für Gedächtnislücken? » fragt der Patient. »
    «Ach so, das ist also mein Problem», sagte Jimmie lachend. «Ich habe es mir fast gedacht. Es kommt ab und zu vor, daß ich etwas vergesse - Sachen, die gerade erst passiert sind. Aber an alles, was länger her ist, kann ich mich gut erinnern.»
    « Sind Sie damit einverstanden, daß ich Sie untersuche und ein paar Tests mit Ihnen mache?»
    «Klar», antwortete er freundlich. «Alles, was Sie wollen. » Beim Intelligenztest schnitt er hervorragend ab. Er war schlagfertig, aufmerksam, konnte logisch denken und hatte keine Schwierigkeiten, komplexe Aufgaben zu lösen - solange diese nicht allzuviel Zeit in Anspruch nahmen. Wenn er sich eine Weile mit einem Problem befaßte, vergaß er nämlich, was er gerade machte. Er war ein schneller, ausgefuchster und offensiver «Dame»- und «Drei in eine Reihe»-Spieler und schlug mich mit Leichtigkeit. Im Schach dagegen hatte er keine Chance - die Spielentwicklung war zu langsam für ihn.
    Bei der Untersuchung seines Erinnerungsvermögens stellte ich extreme und außergewöhnliche Defizite des Kurzzeitgedächtnisses fest. Alles, was man ihm zeigte, sagte oder mit ihm machte, hatte er gewöhnlich innerhalb weniger Sekunden wieder vergessen. So legte ich zum Beispiel meine Uhr, meine Krawatte und meine Brille auf den Tisch und bat ihn, sich diese Gegenstände einzuprägen, bevor ich sie mit einem Tuch bedeckte. Nachdem wir uns dann etwa eine Minute lang über etwas anderes unterhalten hatten, fragte ich ihn, was sich unter dem Tuch befinde. Er konnte sich an nichts erinnern, nicht einmal daran, daß ich ihn gebeten hatte, sich diese drei Dinge zu merken. Ich wiederholte den Test und ließ ihn diesmal die Bezeichnungen der drei Gegenstände aufschreiben; wieder hatte er sie vergessen, und als ich ihm das Blatt mit seiner Handschrift zeigte, war er erstaunt und sagte, er könne sich nicht erinnern, irgend etwas aufgeschrieben zu haben, bestätigte jedoch, daß es sich um seine Handschrift handelte, und konnte sich dann «dunkel» daran erinnern, daß er die Namen der Gegenstände notiert hatte.
    Manchmal kehrten schwache Erinnerungen, ein leises Echo oder ein Gefühl der Vertrautheit zurück. So entsann er sich, fünf Minuten, nachdem wir unsere Partie «Drei in eine Reihe» beendet hatten, daß «irgendein Arzt» dieses Spiel «vor einer Weile mal» mit ihm gespielt hatte - ob das Monate oder nur Minuten her war, wußte er jedoch nicht zu sagen. Dann hielt er inne und erklärte: «Es könnte sein, daß Sie es waren. » Als ich das bestätigte, schien er amüsiert zu sein. Diese leichte Belustigung und Gleichgültigkeit waren sehr charakteristisch, ebenso die die verwickelten Überlegungen, zu denen er durch die Tatsache getrieben wurde, daß er so desorientiert war und ohne zeitlichen Bezug lebte. Als ich Jimmie fragte, was für eine Jahreszeit wir hätten, sah er sich sofort nach einem Anhaltspunkt um - ich hatte vorher den Kalender von meinem Schreibtisch entfernt -und versuchte, nachdem er einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, eine grobe Schätzung.
    Offenbar war er durchaus in der Lage, Eindrücke zu speichern, nur waren die Gedächtnisspuren äußerst flüchtig und gewöhnlich innerhalb einer Minute, oft sogar noch schneller,
    gelöscht, vor allem, wenn es sich um ablenkende oder miteinander konkurrierende Reize handelte. Sein Wahrnehmungsvermögen und seine intellektuellen Fähigkeiten dagegen waren unbeeinträchtigt und sehr ausgeprägt.
    Jimmies wissenschaftliche Kenntnisse entsprachen denen eines intelligenten High – School - Absolventen mit einer Vor liebe für Mathematik und Naturwissenschaften. Arithmetische (und auch algebraische) Rechenaufgaben bewältigte er mit Leichtigkeit, allerdings nur, wenn er sie sehr schnell durch führen konnte. Wenn sie zu viele Rechenschritte, zuviel Zeit erforderten, vergaß er nicht nur, wo er gerade war, sondern konnte sich auch der Fragestellung nicht mehr entsinnen. Er kannte die chemischen Elemente, verglich sie miteinander und zeichnete eine Tabelle des periodischen Systems, in der jedoch die Transurane fehlten.
    «Ist das die vollständige Tabelle?» fragte ich ihn, als er fertig war.
    «Vollständig und auf dem neuesten Stand, soviel ich

Weitere Kostenlose Bücher