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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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weiß. » «Und nach dem Uran kommen keine Elemente mehr?» «Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Es gibt zweiundneunzig Elemente, und Uran ist das letzte. »
    Ich blätterte in einer Ausgabe des National Geographic Magazine, die auf dem Tisch lag. «Nennen Sie mir die Planeten», sagte ich, «und sagen Sie auch etwas über ihre Eigenschaften. » Selbstbewußt und ohne zu zögern zählte er die Planeten auf ihre Namen, das Datum ihrer Entdeckung, ihre Entfernung von der Sonne sowie ihre geschätzte Masse, ihre Zusammen setzung, ihr Gewicht.
    «Was ist das?» fragte ich und zeigte ihm ein Foto in der Zeitschrift.
    «Der Mond», antwortete er.
    «Nein, das ist ein Foto von der Erde, das vom Mond aus aufgenommen worden ist. »
    «Sie machen wohl Witze! Dazu müßte man ja einen Fotoapparat auf den Mond bringen! »
    «Natürlich.»
    «Jetzt mal ernsthaft, Doc - wie sollte man das denn wohl anstellen?»
    Wenn er nicht ein begnadeter Schauspieler war, ein Simulant, der ein Erstaunen spielte, das er nicht empfand, dann war dies ein höchst überzeugender Beweis dafür, daß er in der Vergangenheit lebte. Seine Ausdrucksweise, seine Gefühle, sein naives Staunen, seine Bemühungen, das, was er sah, zu begreifen, waren die eines intelligenten jungen Mannes in den vierziger Jahren, der mit der Zukunft konfrontiert wurde, mit etwas, das sich noch nicht ereignet hatte und das kaum vorstellbar war. «Mehr als alles andere», schrieb ich in mein Notizbuch, «über zeugt mich dies davon, daß die Gedächtnisstörung, die etwa 1945 eingesetzt haben muß, echt ist...Das, was ich ihm zeigte und sagte, rief jene aufrichtige Verwunderung hervor, die jeder intelligente junge Mann vor Beginn des Raumfahrtzeitalters empfunden hätte. »
    Ich fand noch ein weiteres Foto in dem Magazin, das ich ihm vorlegte.
    «Das ist ein Flugzeugträger», sagte er. «Sieht richtig ultra modern aus. So ein Ding hab ich noch nie gesehen. »
    «Und wie heißt das Schiff?» fragte ich ihn.
    Er betrachtete das Foto genauer und las mit verblüfftem Gesicht: «Nimitz!»
    «Stimmt etwas mit dem Namen nicht?»
    «Zum Donnerwetter!» rief er erregt. «Ich kenne die Namen aller Marineschiffe, aber eine «Nimitz» kenne ich nicht... Natürlich gibt es einen Admiral Nimitz, aber ich habe nie davon gehört, daß sie einen Flugzeugträger nach ihm benannt hätten.»
    Zornig warf er die Zeitschrift auf den Tisch.
    Langsam ermüdete ihn das Gespräch. Unter dem ständigen Druck der Ungereimtheiten und Widersprüche und ihrer besorgniserregenden Implikationen, die ihm nicht ganz entgehen konnten, wurde er ziemlich unruhig und gereizt. Ich hatte ihn bereits, ohne mir dessen bewußt zu sein, in Panik versetzt und hielt es für das beste, das Gespräch zu beenden. Wir traten wieder ans Fenster und sahen hinab auf das sonnenbeschienene Baseballfeld; bei diesem Anblick entspannte sich sein Gesicht, er vergaß die «Nimitz», das Satellitenbild und die anderen Dinge, die in ihm Ängste geweckt hatten, und verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit das Spiel. Dann stiegen verlockende Düfte aus dem Speisesaal zu uns empor. Er leckte sich über die Lippen, sagte «Mittagessen!», lächelte mir zu und verabschiedete sich.
    Und ich blieb zurück, ergriffen von bedrückenden Gefühlen - es war herzzerreißend, es war absurd, es war zutiefst verwirrend, daß das Leben dieses Mannes sich in der Vergessenheit verlor.
    «Er befindet sich», schrieb ich in mein Notizbuch, «gewissermaßen ständig in der Isolation eines einzigen Augenblicks, umgeben von einem tiefen Graben des Vergessens ...
    Er ist ein Mann ohne Vergangenheit (oder Zukunft), der in einer sich fortwährend wandelnden, bedeutungslosen Gegenwart gefangen ist. » Und dann, prosaischer: «Die Ergebnisse der anderen neurologischen Untersuchungen sind völlig normal. Erster Eindruck: vermutlich Korsakow-Syndrom infolge alkoholtoxischer Degeneration der Mammillarkörper. » Meine Notizen waren eine seltsame Mischung aus sorgfältig niedergeschriebenen und spezifizierten Fakten und Beobachtungen und sich aufdrängenden Überlegungen über die «Bedeutung» dieser Probleme: Wer und was war dieser bemitleidenswerte Mann? Wo lebte er? Konnte man angesichts dieses absoluten Fehlens von Gedächtnis und Kontinuität überhaupt von «leben» sprechen?
    Völlig unwissenschaftlich beschäftigte ich mich, in diesen und späteren Notizen, immer wieder mit dem Problem der «verlorenen Seele». Wie konnte man eine Kontinuität herstellen,

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