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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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irgendwelche Wurzeln finden? Denn wenn Jimmie G. überhaupt irgendwo verwurzelt war, dann ausschließlich in einer entfernten Vergangenheit.
    «Es müßte nur die Verbindung hergestellt werden» - aber wie sollte er das anstellen, und wie konnten wir ihm dabei helfen? Was war das Leben ohne eine Verbindung, ohne einen Zusammenhang? «... so kann ich wagen... zu behaupten», schrieb Hume, «daß [wir] nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind. » In gewisser Weise war Jimmie auf ein «Humesches Wesen» reduziert worden unwillkürlich mußte ich daran denken, wie fasziniert Hume von Jimmie gewesen wäre, der Inkarnation seiner eigenen philosophischen «Chimära», der schrecklichen Reduzierung eines Menschen auf einen zusammenhanglosen, von allem losgelösten Fluß und Wandel.
    Vielleicht konnte ich in der medizinischen Literatur Rat und Hilfe finden - einer Literatur, die aus einem mir unbekannten Grund hauptsächlich aus Rußland stammte, von Korsakows ursprünglicher These (Moskau 1887) über jene Fälle von Gedächtnisschwund, die auch heute noch als «Korsakow-Syndrom» bezeichnet werden, bis hin zu Lurijas ‹Neuropsychology of Memory› (einem Werk, das erst ein Jahr nach meiner ersten Begegnung mit Jimmie in englischer Übersetzung erschien).
    1887 schrieb Korsakow: «Die Erinnerung an kurz zurückliegende Ereignisse ist fast gänzlich gestört; Eindrücke aus der unmittelbaren Vergangenheit werden offenbar als erste getilgt, während solche, die aus früherer Zeit stammen, genau erinnerlich sind, so daß die Auffassungsgabe des Patienten, sein Scharfsinn und seine geistige Beweglichkeit weitgehend unbeeinträchtigt bleiben. »
    Seit Korsakows brillanten, aber knappen Beobachtungen ist fast ein Jahrhundert weiterer Forschung vergangen, wobei Lurijas Erkenntnisse die mit Abstand tiefsten und weitreichendsten sind. In Lurijas Werk verwandelte sich Wissenschaft in Poesie, und er beschwor darin das Pathos jener vollkommenen Verlorenheit. «Bei solchen Patienten können immer schwere Beeinträchtigungen in der Strukturierung der Eindrücke von Ereignissen und ihrer zeitlichen Abfolge beobachtet werden», schrieb er. «Infolgedessen verlieren sie ihr Zeitgefühl und beginnen, in einer Welt voneinander isolierter Eindrücke zu leben. » Darüber hinaus, bemerkt Lurija, ist es möglich, daß die Tilgung (und die Verwirrung) von Eindrücken sich rückwärts in der Zeit fortsetzt undin den schwersten Fällen- «selbst auf relativ weit zurückliegende Ereignisse übergreift».
    Die meisten der Patienten, die Lurija in seinem Buch beschreibt, hatten bösartige Gehirntumoren in fortgeschrittenem Stadium, die dieselben Auswirkungen hatten wie das Korsakow-Syndrom, später jedoch weiterwucherten und oft zum Tod führten. Lurija beschrieb keinen Fall eines «einfachen» Korsakow-Syndroms, das auf der von Korsakow beschriebenen, sich selbst begrenzenden Zerstörung beruht - einer durch Alkohol hervorgerufenen Zerstörung von Neuronen in den winzigen, aber überaus wichtigen Mammillarkörpern, von der der Rest des Gehirns völlig unberührt bleibt. Daher wurden in den von Lurija beschriebenen Fällen keine Nachfolgeuntersuchungen über einen langen Zeitraum hin weg vorgenommen.
    Im Fall von Jimmie G. war ich angesichts des offenbar abrupt erfolgten Verlustes des Erinnerungsvermögens im Jahre1945, einem Zeitpunkt, der auch symbolisch stark befrachtet ist, zunächst sehr verwirrt, unsicher und sogar mißtrauisch. In einer nachträglichen Notiz schrieb ich: «Es bleibt ein großer blinder Fleck. Wir wissen nicht, was damals - oder später - geschehen ist... Wir müssen diese ‹fehlenden Jahre› ergänzen, und zwar mit Hilfe seines Bruders, der Marine oder der Krankenhäuser, in denen er behandelt worden ist... Könnte es sein, daß er damals, im Krieg, bei einem Gefecht, ein schweres zerebrales oder emotionales Trauma erlitten hat, und daß dies seitdem sein Gedächtnis beeinträchtigt?... Vielleicht war der Krieg der (Höhepunkt› in seinem Leben, das letzte Ereignis, bei dem er sich wirklich lebendig fühlte, so daß er die Zeit, die darauf folgte, als einen einzigen langen, ereignislosen Nachklang empfindet. » [6]
    Wir unterzogen Jimmie verschiedenen Untersuchungen (EEG, Computertomographie) und konnten keine ernstliche Hirnverletzung feststellen. Eine Verkümmerung der winzigen Mammillarkörper

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