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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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elektrische Stimulationen des Gehirns zutreffen: Es gibt erregende und suchterzeugende epileptische Zustände, die von den für sie Anfälligen wiederholt selbst hervorgerufen werden können (ebenso wie etwa Ratten, denen man Elektroden eingesetzt hat, zwanghaft die Taste betätigen, die das «Lustzentrum» in ihrem Gehirn stimuliert). Es gibt jedoch auch andere Arten epileptischer Anfälle, die mit einem Gefühl von Frieden und echtem Wohlbefinden einhergehen. Selbst wenn ein solches Gefühl durch eine Krankheit hervorgerufen wird, kann es echt sein. Und ein solches paradoxes Wohlbefinden mag sich sogar, wie im Fall von Mrs. O'C. und ihrer merkwürdigen, zwanghaften «Erinnerung» (vgl. Kapitel 15), als ein dauerhafter Gewinn erweisen.
    Wir befinden uns hier in einem seltsamen Reich. Wo Krankheit Gesundheit und Normalität Krankheit bedeuten kann, wo Erregung sowohl eine Fessel als auch eine Erlösung sein mag, wo die Realität vielleicht nicht im nüchternen Zustand, sondern im Rausch erfahren wird, laufen unsere gewohnten Überlegungen und Urteile Gefahr, auf den Kopf gestellt zu werden. Dies ist das Reich von Amor und Dionysos.
12
Eine Frage der Identität
    «Was darf es heute sein?» sagt er und reibt sich die Hände. «Ein halbes Pfund Virginia oder ein schönes Stück Nova?» (Offenbar hielt er mich für einen Kunden - es kam oft vor, daß er das Telefon im Stationszimmer abnahm und sich mit «Feinkost Thompson» meldete.)
    «Ach, Mr. Thompson!» sage ich. «Was meinen Sie, wer ich bin?»
    «Meine Güte, das Licht ist so schlecht - jetzt habe ich dich für einen Kunden gehalten. Wenn das nicht mein alter Freund Tom Pitkins ist...» - «Ich und Tom», flüstert er der Krankenschwester zu, «wir sind immer zusammen zum Rennen gegangen.»
    «Sie irren sich schon wieder, Mr. Thompson. »
    «Richtig», sagt er, nicht einen Moment lang aus der Fassung gebracht. «Wenn Sie Tom wären, würden Sie ja keinen weißen Kittel tragen. Sie sind Hymie, der jüdische Metzger von nebenan. Keinen Blutspritzer auf dem Kittel? Geht das Geschäft heute schlecht? Na, keine Sorge - zum Wochenende wird's schon besser werden! »
    Ich habe langsam selbst das Gefühl, in diesem Strudel von Identitäten unterzugehen, und spiele mit dem Stethoskop, das ich mir umgehängt habe.
    «Ein Stethoskop!» ruft er. «Und damit tust du, als wärst du Hymie! Ihr Mechaniker verkleidet euch jetzt wohl alle als Ärzte, mit diesen weißen Kitteln und Stethoskopen - als ob man ein Stethoskop bräuchte, um sich anzuhören, wie ein Motor klingt! Du bist also mein alter Freund Manners von der Tankstelle ein Stückchen die Straße runter. Komm rein! Bologneser auf Roggenbrot?»
    William Thompson reibt sich wieder die Hände - die typische Geste eines Kaufmanns - und sieht sich nach der Theke um. Er kann sie nicht entdecken und mustert mich mit einem sonderbaren Blick.
    «Wo bin ich?» sagt er, plötzlich verängstigt. «Ich dachte, ich wäre in meinem Laden, Herr Doktor. Wo habe ich bloß meine Gedanken... Soll ich mich frei machen, damit Sie mich unter suchen können wie immer?»
    «Nein, nicht wie immer. Ich bin nicht Ihr Hausarzt. » «Nein, das sind Sie nicht. Das habe ich gleich gesehen! Sie sind nicht einer von denen, die einem die Brust abklopfen. Und was für einen Bart Sie haben! Sie sehen aus wie Sigmund Freud. Bin ich ausgetickt, abgedreht?»
    «Nein, Mr. Thompson, Sie sind nicht abgedreht. Sie haben nur ein kleines Problem mit Ihrem Gedächtnis - Schwierigkeiten, sich zu erinnern und andere Leute wiederzuerkennen. »
    «Ja, mein Gedächtnis hat mir in letzter Zeit ein paarmal Streiche gespielt», gibt er zu. «Manchmal mache ich Fehler und verwechsle die Leute... Also, was darf es nun sein: Nova oder Virginia?»
    So oder ähnlich lief jedes Gespräch mit ihre ab. Seine Improvisationen waren immer blitzschnell, oft witzig, manchmal geradezu brillant, und im Grunde tragisch. Im Verlauf von fünf Minuten erkannte er in mir ein Dutzend verschiedener Leute wieder – jedenfalls glaubte er das. Er hangelte sich gewandt von einer Vermutung, einer Annahme, einer Hypothese zur nächsten, ohne auch nur einen Augenblick lang Unsicherheit erkennen zu lassen - er wußte nie, wer oder was ich war oder wer und wo er war: ein ehemaliger Kaufmann mit einem schweren Korsakow-Syndrom, der in eine Nervenklinik eingeliefert worden war.
    Länger als einige Sekunden konnte er sich an nichts erinnern. Er war ständig desorientiert. Unter ihm taten sich immerzu Abgründe

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