Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Paradoxa an einem anderen Patienten (Miguel O.) beobachten können. Er wurde mit der Erregte Ausgestaltung («ein offener Karton») Diagnose «manisch» in das staatliche Krankenhaus überwiesen, aber bald stellte man fest, daß er sich in der Erregungsphase der Neurosyphilis befand. Er war ein ungebildeter Mann, ein Landarbeiter aus Puerto Rico, und da er außerdem eine Gehör- und Sprachbehinderung hatte, konnte er sein Befinden nicht allzu gut in Worte fassen. Er beschrieb seine Lage jedoch recht einfach und klar mit Hilfe von Zeichnungen.
Als ich ihn zum erstenmal sah, war er sehr erregt, und als ich ihn bat, ein einfaches Bild (A) abzuzeichnen, malte er mit großem Eifer ein dreidimensionales Gebilde (B) - jedenfalls hielt ich es dafür, bis er mir erklärte, dies sei «ein offener Karton», worauf er versuchte, ein paar Früchte hineinzuzeichnen. Impulsiv wie er war und durch seine erregte Imagination beflügelt, hatte er den Kreis und das Kreuz in der Vorlage ignoriert, aber das Prinzip der «Umschließung» erkannt und umgesetzt. Ein offener Karton, ein Karton voller Orangen - war das nicht aufregender, lebendiger, realer als mein langweiliges Bild?
Einige Tage später traf ich ihn wieder. Er war voller Energie
und sehr aktiv, beschwingt von Gedanken und Gefühlen. Ich bat ihn, dasselbe Bild noch einmal abzuzeichnen. Diesmal machte er aus dem Original spontan eine Art Trapez, eine Raute, die ein kleiner Junge an einer Schnur fliegen ließ (C). «Ein Junge mit Drachen, der Drachen fliegt!» rief er aufgedreht.
Nach einigen Tagen besuchte ich ihn zum drittenmal. Er war ziemlich phlegmatisch, eher wie einer, der an der Parkinsonschen Krankheit leidet (man hatte ihm vor den abschließenden Untersuchungen der Rückenmarksflüssigkeit Haldol gegeben, um ihn ruhigzustellen). Wieder bat ich ihn, das Bild abzumalen, und diesmal kopierte er es langweilig, korrekt, etwas kleiner als das Original (das war die «Mikrographie», zu der es unter dem Einfluss von Haldol kommt) und ohne die kunstvolle Ausgestaltung, die Belebtheit, die Phantasie der an deren Bilder (D). «Ich ‹sehe› keine Dinge mehr», sagte er. «Vorher sah alles so wirklich, so lebendig aus. Wird mir nach der Behandlung alles leblos vorkommen?»
Die Bilder von Parkinson-Patienten, die durch die Verabreichung von L-Dopa «zum Leben erweckt» werden, stellen eine lehrreiche Analogie hierzu dar. Auf die Bitte, einen Baum zu zeichnen, kreieren sie zumeist erst ein kleines, kümmerliches, armseliges und verkrüppeltes Ding, einen kahlen,winterlichen Baum, der kein einziges Blatt trägt. Wenn sie aber durch das L-Dopa «warmwerden», «zu sich kommen» und mit Leben erfüllt werden, erhält auch der Baum Lebenskraft, phantasievollere Formen und Blätter. Wird der Patient zu erregt, ist er «high» vom L-Dopa, zeigt der Baum phantastische Ornamente und üppiges Wachstum: Überall sprießen, mit kleinen Verzierungen und Schnörkeln, neue Zweige und Blätter, bis schließlich die ursprüngliche Form von dieser enormen, barocken Fülle ganz und gar erdrückt wird. Solche Zeichnungen sind auch recht charakteristisch für das Tourettesche Syndrom und für die sogenannte Speedart von Amphetamin-Konsumenten: Die ursprüngliche Form, der ursprüngliche Gedanke, geht unter in einem Dschungel von Schnörkeln und Beiwerk. Die Phantasie wird zunächst geweckt und steigert sich dann zu einer manischen Erregung, die kein Maß mehr kennt.
Welch ein Paradoxon, welch eine Grausamkeit, welch eine Ironie liegt in diesem Geschehen: Das Innenleben und die Vorstellungskraft liegen so lange in einem stumpfen Schlaf, bis sie durch eine Krankheit oder Intoxikation geweckt und erlöst werden!
Um eben dieses Paradoxon ging es in ‹Bewusstseinsdämmerungen›; es ist auch der Grund für die Faszination, die vom Touretteschen Syndrom ausgeht (siehe Kapitel 10 und 14), und zweifellos auch für die eigenartige Unsicherheit bei der Bewertung einer Droge wie Kokain. (Es ist bekannt, dass Kokain, ebenso wie das Tourettesche Syndrom oder L-Dopaden Dopamin Spiegel im Gehirn hebt.) So ist auch Freuds überraschende Bemerkung «über Coca» zu verstehen, daß das Gefühl von Wohl befinden und Euphorie, das es hervorruft, «sich von der normalen Euphorie des gesunden Menschen in gar nichts unterscheidet... Man ist eben einfach normal und hat bald Mühe, sich zu glauben, daß man unter irgendwelcher Einwirkung steht. »
Dieselbe paradoxe Einschätzung kann auch auf
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