Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
von Amnesie auf, aber er überbrückte sie mühelos mit gewandtem Geplauder und Geschichten aller Art. In seinen Augen waren sie jedoch keineswegs frei erfunden, sondern drückten aus, wie er die Welt im Augenblick sah oder deutete. Deren Widersprüche, ihre fortwährende grundlegende Veränderung konnte keine Sekunde lang hingenommen und akzeptiert werden. Daher schuf sich Mr. Thompson diese sonderbare, wahnhafte Quasi-Kontinuität, indem er mit Hilfe seiner unaufhörlichen, unbewußten, gedankenschnellen Erfindungen pausenlos eine Welt um sich herum improvisierte - eine Welt aus Tausendundeiner Nacht, eine Phantasmagorie, eine Traumwelt, die aus ständig sich wandelnden Menschen, Figuren und Situationen, aus endlosen kaleidoskopischen Umbildungen und Verwandlungen bestand. Für Mr. Thompson war dies nicht ein Gewebe aus flüchtigen, sich ununterbrochen verändernden Phantasien und Wahnvorstellungen, sondern eine völlig normale, stabile und wirkliche Welt. Er hatte damit keine Probleme.
Einmal unternahm Mr. Thompson einen Ausflug. Er stellte sich beim Pförtner der Klinik als «Pastor William Thompson» vor, bestellte ein Taxi und blieb den ganzen Tag über verschwunden. Der Taxifahrer, mit dem wir später sprachen, sagte, er habe noch nie einen so faszinierenden Fahrgast gehabt. Mr. Thompson habe ihm eine Geschichte nach der anderen erzählt, erstaunliche Geschichten voller phantastischer Abenteuer. «Er schien schon überall gewesen zu sein, alles gemacht zu haben und alle möglichen Leute zu kennen. Ich kann mir kaum vorstellen, daß ein Leben ausreicht, das alles zu erleben», sagte er. «Eigentlich kann man hier auch nicht von einem einzigen Leben sprechen», antworteten wir. «Das ist eine seltsame Sache - mehr eine Frage der Identität. » [13]
Bei Jimmie G., einem anderen Korsakow-Patienten, dessen
Fall ich bereits ausführlich geschildert habe (siehe Kapitel 2), war das akute Korsakow-Syndrom schon lange abgeklungen. Er schien sich in einem Zustand permanenter Verlorenheit zu befinden(oder vielleicht besser: in einem permanenten Traum, einer in der Maske der Gegenwart auftretenden Erinnerung an die Vergangenheit). Aber Mr. Thompson, der gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen war - sein Korsakow-Syndrom war erst vor drei Wochen ausgebrochen: er bekam hohes Fieber, phantasierte und erkannte kein Mitglied seiner Familie mehr -, befand sich noch immer in einem akuten Stadium, in einem an Wahnsinn grenzenden konfabulatorischen Delir (das zuweilen als «Korsakow-Psychose» bezeichnet wird, obwohl es sich hierbei keineswegs um eine Psychose handelt). Mit seinen Worten erschuf er unablässig sich selbst und die Welt um sich herum, um zu ersetzen, was er ständig vergaß und verlor. Ein solcher Wahnsinn kann eine atemberaubende Erfindungsgabe freisetzen, ein regelrechtes erzählerisches Genie, denn ein solcher Patient muß in jedem Augenblick sich selbst (und seine Welt) buchstäblich erfinden. Jeder von uns hat eine Lebensgeschichte, eine Art innerer Erzählung, deren Gehalt und Kontinuität unser Leben ist. Man könnte sagen, daß jeder von uns eine «Geschichte» konstruiert und lebt. Diese Geschichte sind wir selbst, sie ist unsere Identität.
Wenn wir etwas über jemanden erfahren wollen, fragen wir: «Wie lautet seine Geschichte, seine wirkliche, innerste Geschichte?» Denn jeder von uns ist eine Biographie, eine Geschichte. Jeder Mensch ist eine einzigartige Erzählung, die fortwährend und unbewußt durch ihn und in ihm entsteht - durch seine Wahrnehmungen, seine Gefühle, seine Gedanken, seine Handlungen und nicht zuletzt durch das, was er sagt, durch seine in Worte gefaßte Geschichte. Biologisch und physiologisch unterscheiden wir uns nicht sehr voneinander - historisch jedoch, als gelebte Erzählung, ist jeder von uns einzig artig.
Um wir selbst zu sein, müssen wir uns selbst haben; wir müssen unsere Lebensgeschichte besitzen oder sie, wenn nötig, wieder in Besitz nehmen. Wir müssen uns erinnern - an unsere innere Geschichte, an uns selbst. Der Mensch braucht eine solche fortlaufende innere Geschichte, um sich seine Identität, sein Selbst zu bewahren.
Dieses Bedürfnis scheint der Schlüssel zu Mr. Thompsons Geschichten und seiner verzweifelten Beredsamkeit zu sein. Da er seiner Kontinuität, seiner ruhig und unablässig dahin fließenden inneren Geschichte beraubt ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als wie verrückt Geschichten zu erzählen - daher also seine ständigen
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