Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Leben erfüllt! » Aber mit der Zeit fanden sie mein Verhalten nicht
mehr ganz - schicklich. «Du warst immer so zurückhaltend», sagten sie, «und jetzt flirtest du mit jedem Mann. Du kicherst, du erzählst Witze... Das gehört sich doch nicht - in deinem Alter!»
«Und wie haben Sie sich gefühlt?»
«Ich war bestürzt. Es hatte mich einfach mitgerissen, und ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, was eigentlich los war. Aber dann fing ich an zu überlegen. Ich sagte mir: Natasha, du bist neunundachtzig, und das geht jetzt schon seit einem Jahr so. Du hast deine Gefühle immer gut im Zaum gehalten und jetzt dieser Überschwang! Du bist eine alte Frau und hast nicht mehr lange zu leben. Woher kommt diese plötzliche Euphorie? Und bei dem Wort (Euphorie› fiel es mir wie Schuppen von den Augen... Du bist krank, meine Liebe, sagte ich mir. Es geht dir zu gut, du mußt einfach krank sein!»
«Krank, sagen Sie? Gemütskrank? Geisteskrank?»
«Nein, nicht gemütskrank - körperlich krank. Es war irgend etwas in meinem Körper, in meinem Kopf, das mich so beschwingt machte. Und dann dachte ich: Verdammt, das ist Amors Pfeil! »
«Amors Pfeil?» wiederholte ich verständnislos.
«Ja, Amors Pfeil: Syphilis. Vor fast siebzig Jahren arbeitete ich in einem Bordell in Saloniki. Damals bekam ich Syphilis - viele der Mädchen dort hatten sich damit angesteckt. Wir nannten das Amors Pfeil. Mein Mann hat mich gerettet - er holte mich da raus und ließ mich behandeln. Damals gab es natürlich noch kein Penicillin. Könnte es nicht sein, daß ich nach all diesen Jahren einen Rückfall erlitten habe?»
Bei der Syphilis kann eine sehr lange Latenzzeit zwischen der Erstansteckung und dem Ausbruch von Neurosyphilis liegen, vor allem dann, wenn die Krankheit in ihrem Frühstadium unterdrückt worden ist. Einer meiner Patienten, den Ehrlich persönlich mit Salvarsan behandelt hatte, bekam mehr als fünfzig Jahre später Rückenmarksschwindsucht (Ta bes dorsalis, eine Form der Neurosyphilis).
Aber von einer Latenzzeit von siebzig Jahren war mir noch nie etwas zu Ohren gekommen, und ich hatte auch noch nie gehört, daß eine Selbstdiagnose von Neurosyphilis so klar und gelassen gestellt wurde.
«Das ist ein sonderbarer Gedanke», antwortete ich nach einiger Überlegung. «Ich wäre nie selbst darauf gekommen - aber vielleicht haben Sie recht. »
Sie hatte recht; der Befund ihrer Rückenmarksflüssigkeit war positiv. Sie hatte Neurosyphilis, und es waren tatsächlich die Spirochäten, die ihre Großhirnrinde Stimulierten. Wir standen nunmehr vor der Frage, wie die Behandlung erfolgen sollte. Aber hier ergab sich ein weiteres Dilemma, das Natasha K. mit der ihr eigenen Genauigkeit umriß: «Ich weiß gar nicht,
ob ich überhaupt eine Behandlung will. Ich weiß zwar, daß es eine Krankheit ist, aber sie hat dazu geführt, daß es mir gut geht. Ich habe das genossen, und ich genieße es noch immer, das kann ich nicht leugnen. Ich fühle mich so lebendig und beschwingt wie in den letzten zwanzig Jahren nicht. Es hat Spaß gemacht. Aber ich weiß, wann etwas Gutes zu weit geht und aufhört, gut zu sein. Ich habe Gedanken und Impulse gehabt, über die ich lieber nicht sprechen möchte. Sie waren - nun ja, albern und beschämend. Zu Anfang war es, als wäre ich ein bißchen beschwipst, aber wenn das so weitergeht...» Sie mimte eine sabbernde, spastische Verrückte. «Mir schwante, daß es Amors Pfeil war, und darum bin ich zu Ihnen gekommen. Ich will nicht, daß es schlimmer wird - das wäre furchtbar; aber ich will auch nicht, daß dieser Zustand ganz aufhört - das wäre genauso schlecht. Bevor es mich überkam, war ich gar nicht richtig am Leben. Ließe es sich nicht so einrichten, daß alles bleibt, wie es ist?»
Wir überlegten eine Weile hin und her und schlugen dann den barmherzigen Mittelweg ein. Wir gaben ihr Penicillin, das die Spirochäten abtötete, aber die durch sie hervorgerufene Enthemmung und zerebrale Veränderung nicht wieder rück gängig machen kann.
Und so hat Natasha K. alles: einen gelösten Fluß von beschwingten Impulsen und Gedanken, ohne die Gefahr, daß sie ihre Selbstbeherrschung verliert oder daß ihr Gehirn weiter geschädigt wird. So verjüngt und zu neuem Leben erweckt, hofft sie, hundert Jahre alt zu werden. «Amors Pfeil ist schon ein komisches Ding», sagt sie, «das muß man ihm lassen. »
Nachschrift
Vor kurzem erst (im Januar 1985) habe ich einige der hier beschriebenen Zwiespälte und
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