Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Neurologen gehen, zu meinem Kollegen Dr. Sacks. » Und so kam Mrs. O'C. zu mir.
Es war keineswegs einfach, mit ihr zu sprechen, und zwar zum Teil wegen ihrer Schwerhörigkeit, hauptsächlich aber, weil meine Stimme immer wieder von den Liedern übertönt wurde - sie konnte mich nur an den leiseren Stellen hören. Sie machte keinen deliranten oder verrückten Eindruck, sondern schien aufmerksam und intelligent, sah aber so entrückt aus wie jemand, der halb in einer eigenen Welt lebt. Meine Untersuchungen ergaben keinen pathologischen Befund -und doch wurde ich den Verdacht nicht los, daß die Musik auf eine « neurologische» Ursache zurückzuführen war.
Was mochte diese Störung bei Mrs. O'C. bewirkt haben? Sie war achtundachtzig Jahre alt, ihr Gesundheitszustand war ausgezeichnet, und nichts deutete auf ein Fieber hin. Sie nahm keine Medikamente, die ihre überdurchschnittlich gute geistige Verfassung hätten beeinträchtigen können. Und offenbar war sie am Tag zuvor noch normal gewesen.
«Halten Sie es für möglich, daß es ein Schlaganfall war, Doktor?» fragte sie, als habe sie meine Gedanken gelesen. «Das könnte sein», antwortete ich, «obwohl ich von einem
derartigen Schlaganfall noch nie etwas gehört habe. Irgend etwas ist geschehen, soviel ist sicher, aber ich glaube nicht, daß eine akute Gefahr besteht. Machen Sie sich keine Sorgen, und halten Sie durch.»
«Es ist gar nicht so einfach durchzuhalten», sagte sie, «wenn man in einer Situation wie meiner ist. Ich weiß, daß es hier still ist, aber ich schwimme in einem Meer von Klängen.»
Ich hatte vor, auf der Stelle ein Elektroenzephalogramm an zufertigen, wobei ich mich speziell auf die Schläfenlappen, die «musikalischen» Lappen des Gehirns, konzentrieren wollte, aber besondere Umstände verhinderten dies zunächst. Nach und nach nahm die Musik ab - das heißt, sie wurde leiser und war vor allem nicht mehr ständig zu hören. Nach drei Nächten konnte Mrs. O'C. wieder schlafen und sich in zunehmendem Maße zwischen den «Liedern» unterhalten. Als ich schließlich dazu kam, ein EEG zu machen, hörte sie nur noch gelegentlich kurze Musikfetzen, alles in allem etwa zwölfmal am Tag. Nachdem sie sich hingelegt hatte und die Elektroden an ihrem Kopf befestigt worden waren, bat ich sie, still zu liegen, nicht zu sprechen und nicht «in Gedanken zu singen», sondern ihren rechten Zeigefinger ganz leicht zu heben - diese Bewegung würde das EEG nicht beeinflussen -, wenn sie ein Lied hörte. Im Verlauf der zweistündigen Aufnahme hob sie dreimal ihren Finger, und jedesmal zeichneten die Schreibfedern ausgeprägte Spitzen und Kurven auf, die auf eine starke Aktivität der Schläfenlappen schließen ließen. Damit war bestätigt, daß sie tatsächlich Anfälle im Bereich der Schläfenlappen hatte. Diese Anfälle sind, wie Hughlings Jackson vermutete und Wilder Penfield nachwies, stets die Grundlage von «Erinnerungen» und authentischen Halluzinationen. Aber wie kam es, daß dieses seltsame Symptom so plötzlich auftrat? Ich ließ eine Computertomographie vornehmen, und dabei stellte sich heraus, daß sie tatsächlich eine kleine Thrombose oder einen Infarkt im Bereich ihres rechten Schläfenlappens gehabt hatte. Das plötzliche Erklingen irischer Lieder mitten in der Nacht, die Aktivierung musikalischer Gedächtnisspuren in der Hirnrinde war offenbar die Folge eines Schlaganfalls, und mit dem Pfropf löste sich auch die Musik langsam auf.
Gegen Mitte April waren die Lieder ganz verschwunden, und Mrs. O'C. war wieder die alte. Ich fragte sie, wie es ihr dabei gehe, und vor allem, ob sie diese musikalischen Anfälle vermisse. «Komisch, daß Sie mich das fragen», sagte sie und lächelte. «In erster Linie fühle ich mich eigentlich sehr erleichtert. Aber irgendwie vermisse ich die alten Lieder tatsächlich ein bißchen. An die meisten kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern. Es war, als hätte ich ein vergessenes Stück meiner Kindheit zurückbekommen. Und einige der Lieder waren wirklich sehr schön. »
Solche Äußerungen waren mir von einigen meiner Patienten her bekannt, denen ich L-Dopa verabreicht hatte - ich gebrauchte dafür den Ausdruck «nostalgische Ausschweifungen». Und das, was Mrs. O'C. mir erzählte, ihre offenkundige Sehnsucht nach der Vergangenheit, ließ mich an die erschütternde Geschichte ‹Die Tür in der Mauem von H. G. Wells denken. Ich erzählte sie ihr. «Das ist es», sagte sie, «das gibt genau die Stimmung und
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