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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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gebrauchte er den allgemeinen Begriff «Erinnerungen». Er schrieb: «Ich würde nie eine Epilepsie auf Grund von anfallsartig auftretenden «Erinnerungen» diagnostizieren, wenn sich keine anderen Symptome zeigen. Allerdings würde ich vermuten, daß eine Epilepsie vorliegt, wenn jener übersteigerte Bewußtseinszustand sehr häufig aufzutreten begänne. .. Ich bin nie wegen ‹Erinnerungen› allein konsultiert worden ... »
    Ich dagegen bin sehr wohl konsultiert worden, und zwar im Zusammenhang mit künstlich herbeigeführten oder anfallsartig auftretenden «Erinnerungen» an Melodien, «Visionen», «Geister» oder Vorfälle- und dies nicht nur bei Epilepsie, sondern auch bei verschiedenen anderen Zuständen mit organischer Ursache. Diese Reisen oder Reminiszenzen sind bei Migräne-Kranken nichts Ungewöhnliches (siehe «Die Visionen der heiligen Hildegard», Kapitel z0). Das Gefühl «zurückzugehen», sei es auf Grund einer Intoxikation, sei es auf Grund einer Neigung zur Epilepsie, wird in «Reise nach Indien» (Kapitel 17) geschildert. Der in «Nostalgische Ausschweifungen» (Kapitel 16) beschriebene Fall und die seltsame Hyperosmie in «Hundenase» (Kapitel 18) haben eindeutig toxische oder chemische Ursachen. Die schreckliche «Reminiszenz» in «Mord» (Kapitel 19) ist entweder auf einen Anfall oder auf die Aufhebung von Hemmungen im Bereich der Stirnlappen zurückzuführen.
    Das Thema des folgenden Teils ist das Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen, das es dem Menschen infolge einer ab normen Stimulation der Schläfenlappen und des limbischen Systems ermöglicht zu «reisen». Wir mögen daraus sogar etwas über die zerebralen Ursachen gewisser Visionen und Träume erfahren und sehen, wie das Gehirn (das Sherrington «einen magischen Webstuhl» genannt hat) in der Lage ist, einen fliegenden Teppich zu weben, mit dem wir auf Reisen gehen können.
15
Erinnerung
    Bis auf die Tatsache, daß Mrs. O'C. etwas schwerhörig war, ließ ihre Gesundheit nichts zu wünschen übrig. Sie lebte in einem Altersheim. Eines Nachts im Januar 1979 träumte sie lebhaft und sehnsuchtsvoll von ihrer Kindheit in Irland, vor allem von den Liedern, die man damals sang und zu denen man tanzte. Als sie aufwachte, war die Musik immer noch klar und deutlich zu hören. Ich träume wohl noch, dachte sie, aber dem war nicht so. Aufgeregt und verwirrt stand sie auf. Es war mitten in der Nacht. Irgendjemand mußte das Radio angelassen haben. Aber warum war sie die einzige, die sich dadurch gestört fühlte? Sie überprüfte jedes Radio, das sie finden konnte, aber alle waren abgestellt. Dann kam ihr ein anderer Gedanke: Sie hatte gehört, daß Zahnfüllungen manchmal wie ein Empfänger funktionieren und Radiowellen mit ungewöhnlicher Intensität auffangen können. Das ist es, dachte sie. Eine meiner Füllungen spielt das Radioprogramm. Das wird bald vorbei sein. Morgen früh gehe ich zum Zahnarzt. Sie klagte ihr Leid der Nachtschwester, die sagte, ihre Zahnfüllungen sähen einwandfrei aus. In diesem Augenblick kam Mrs. O'C. ein anderer Gedanke: Welcher Sender, fragte sie sich, würde mitten in der Nacht irische Lieder in dieser Lautstärke spielen? Lieder, nur Lieder, ohne Ansage oder Kommentar? Und ausschließlich Lieder, die ich kenne. Welcher Sender würde wohl nur meine Lieder spielen und sonst nichts? Dies war der Punkt, an dem sie sich fragte: Ist das Radio vielleicht in meinem Kopf?
    Sie war inzwischen ziemlich beunruhigt - und die Musik spielte noch immer so laut, daß sie kaum etwas anderes hören konnte. Ihre letzte Hoffnung war ihr Facharzt für Ohrenleiden, den sie regelmäßig aufsuchte: Er würde eine beruhigende Erklärung für diesen nächtlichen Vorfall haben und ihr versichern, es handele sich nur um «Geräusche im Ohr», um etwas, das mit ihrer Schwerhörigkeit zusammenhing und über das sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Aber als er sie am nächsten Morgen untersucht hatte, sagte er: «Nein, Mrs. O'C., ich glaube nicht, daß es an Ihren Ohren liegt. Wenn es um ein einfaches Klingeln oder Summen oder Rumpeln ginge... aber ein Konzert, das ausschließlich aus irischen Liedern besteht - das sind nicht Ihre Ohren. Vielleicht», fuhr er fort, «sollten Sie zu einem Psychiater gehen. » Das tat Mrs. O'C. noch am selben Tag. «Nein», sagte der Psychiater, «an Ihrem Kopf liegt es nicht. Sie sind nicht verrückt – und Verrückte hören übrigens auch keine Musik, sondern nur «Stimmen». Sie sollten zu einem

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