Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Anfalls. Dies bestätigte meine Vermutung, daß auch sie infolge einer Erkrankung der Schläfenlappen an einer musikalischen Epilepsie litt.
Aber was ging wirklich in den Gehirnen von Mrs. O'C. und Mrs. O'M. vor? Der Ausdruck «musikalische Epilepsie» klingt wie ein Widerspruch in sich, denn Musik ist normaler weise von Gefühl und Bedeutung erfüllt und korrespondiert mit etwas tief in uns selbst, mit der «Welt hinter der Musik», um es mit Thomas Manns Worten zu sagen, während in dem Begriff «Epilepsie» das genaue Gegenteil mitschwingt: Epilepsie ist ein grobes, willkürliches physiologisches Ereignis, das sein Opfer wahllos überfällt und mit keinerlei Gefühl oder
Sinn erfüllt ist. Daher erscheint «musikalische Epilepsie» oder «individuelle Epilepsie» als ein begrifflicher Widerspruch. [15]
Und doch gibt es solche Epilepsien, wenn auch ausschließlich im Zusammenhang mit Anfällen, von denen die Schläfenlappen betroffen sind, also jener Teil des Gehirns, in dem das Erinnerungsvermögen lokalisiert ist. Hughlings Jackson beschrieb diese Epilepsien vor einem Jahrhundert und gebrauchte dabei die Ausdrücke «Traumzustände», «Erinnerungen» und «psychische Anfälle»: «Es ist nicht ungewöhnlich, daß den Epileptiker zu Beginn eines Anfalls vage und doch außerordentlich komplexe Bewusstseinszustände überkommen... Dieser komplexe Bewusstseinszustand, die sogenannte intellektuelle Aura, ist in allen Fällen genau oder jedenfalls im wesentlichen gleich. »
Solche Beschreibungen blieben rein anekdotisch, bis Wilder Penfield fünfzig Jahre später seine bahnbrechenden Studien vornahm. Es gelang ihm, als Ursprung dieser «komplexen Bewusstseinszustände» die Schläfenlappen auszumachen und diese Zustände oder die äußerst genauen und detaillierten «authentischen Halluzinationen» solcher Anfälle künstlich hervorzurufen. Zu diesem Zweck stimulierte er bei Patienten, denen man den Schädel geöffnet hatte und die bei vollem Bewusstsein waren, mit schwacher elektrischer Spannung jene Punkte in der Hirnrinde, von denen diese Anfälle ausgingen. Auf diese Reizung erfolgte sogleich eine intensive, lebhafte Halluzination von Melodien, Menschen oder Szenen, die die Patienten trotz der nüchternen Atmosphäre des Operationssaals als überwältigend real erlebten und den Anwesenden bis ins kleinste Details schilderten. Damit war bestätigt, was Hughlings Jackson sechzig Jahre früher geschrieben hatte, als er von der charakteristischen «Verdopplung des Bewußtseins» sprach: «Es gibt (1) den quasiparasitären Bewußtseinszustand (Traumzustand) und (2) Reste des normalen Bewußtseins und damit ein doppeltes Bewußtsein.. . eine mentale Diplopie. »
Dies war genau der Zustand, den meine beiden Patientinnen mir beschrieben: Mrs. O'M. hörte und sah mich, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten, durch den ohrenbetäubenden Traum von «Easter Parade» oder den ruhigeren, aber eindrucksvolleren Traum von «Good Night, Sweet Jesus» hin durch (der für sie das Bild jener Kirche in der 31. Straße heraufbeschwor, in die sie immer gegangen und in der dieses Lied nach jeder Novene gesungen worden war). Und Mrs. O'C. sah und hörte mich ebenfalls durch den weit heftigeren «Erinnerungsanfall» hindurch, der sie in ihre Kindheit in Irland zurückversetzte: «Ich weiß, daß Sie hier sind, Doktor Sacks. Ich weiß auch, daß ich eine alte Frau in einem Altersheim bin, die einen Schlaganfall gehabt hat, aber ich fühle mich wieder wie als Kind in Irland. Ich fühle die Arme meiner Mutter, ich sehe sie vor mir, ich höre sie singen. » Solche epileptischen Halluzinationen oder Träume sind, wie Penfield nachgewiesen hat, nie Phantasien, sondern äußerst genaue und lebhafte Erinnerungen, die von eben jenen Emotionen begleitet werden, die auch mit dem ursprünglichen Erlebnis verknüpft waren. Die bis ins kleinste Detail gehende Genauigkeit dieser Halluzinationen, die sich jedesmal einstellten, wenn die Hirnrinde stimuliert wurde, übertraf alles, was das normale Gedächtnis leisten könnte, und führte Penfield zu der Annahme, daß sich das Gehirn eine fast vollständige Erinnerung an alle Ereignisse des Lebens und an den ganzen Strom des Bewußtseins bewahrt. Diese Erinnerungen können, sei es aufgrund der normalen Lebensbedürfnisse und -umstände, sei es durch außerordentliche Ereignisse wie einen epileptischen Anfall oder eine elektrische Stimulation, heraufbeschworen oder abgerufen werden. Die Vielfalt, die
Weitere Kostenlose Bücher