Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
das Gefühl wieder. Aber meine Tür ist real, so wie meine Mauer real war. Meine Tür führt in eine verlorene und vergessene Vergangenheit. »
Erst im Juni 1983 stieß ich auf einen ähnlichen Fall. Ich wurde zu Mrs. O'M. gerufen, die inzwischen im selben Altersheim wohnte. Mrs. O'M. war ebenfalls über achtzig, intelligent, geistig rege und etwas schwerhörig. Auch sie hörte Musik in ihrem Kopf und manchmal ein Klingeln oder Zischen oder Rumpeln; gelegentlich hörte sie «Stimmen, die miteinander reden». Meistens klangen diese «weit entfernt» und redeten «alle auf einmal», so daß sie nie verstehen konnte, was sie eigentlich sagten. Sie hatte nie mit irgend jemandem über diese Symptome gesprochen und vier Jahre lang insgeheim befürchtet, sie sei verrückt. Als die Schwester ihr erzählte, es habe in dem Altersheim vor einiger Zeit einen ähnlichen Fall gegeben, war sie daher sehr erleichtert und entschloß sich, mit mir zu sprechen.
Eines Tages, so erzählte sie, habe sie in der Küche gesessen und Pastinaken geschnitten. Plötzlich sei das Lied «Easter Parade» erklungen, gefolgt von «Glory, Glory Hallelujah» und «Good Night, Sweet Jesus». Wie Mrs. O'C. hatte sie zunächst
angenommen, jemand höre laut Radio, doch hatte sie schnell festgestellt, daß alle Apparate im Haus ausgeschaltet waren. Das war 1979, also vier Jahre zuvor gewesen. Mrs. O'C.s Zu stand hatte sich innerhalb weniger Wochen verbessert, aber Mrs. O'M. hörte noch immer die Musik, und es wurde immer schlimmer.
Zunächst hörte sie nur diese drei Lieder - manchmal ganz spontan, aus heiterem Himmel, aber mit Sicherheit immer, wenn sie an eines von ihnen dachte. Sie versuchte daher bewußt, nicht an sie zu denken, aber das hatte denselben Effekt.
«Mögen Sie diese Lieder besonders gern?» fragte ich sie im Stil eines Psychiaters. «Haben sie für Sie eine spezielle Bedeutung?»
«Nein», antwortete sie sofort. «Ich habe sie nie besonders gemocht, und ich glaube nicht, daß sie eine besondere Bedeutung für mich haben. »
«Und wie war das für Sie, als diese Lieder immer wieder kamen?»
«Mit der Zeit fing ich an, sie zu hassen», sagte sie heftig. «Es war, als legte irgendein verrückter Nachbar andauernd die selbe Platte auf. »
Ein Jahr oder länger hörte sie immer nur diese Lieder, eines nach dem anderen. Es trieb sie fast zum Wahnsinn. Dann wurde die innere Musik komplexer und abwechslungsreicher - und obwohl das in gewisser Weise eine Verschlechterung darstellte, war sie doch irgendwie erleichtert. Sie hörte jetzt zahllose Lieder - manchmal mehrere gleichzeitig, mal von einem Orchester gespielt, mal von einem Chor gesungen - und gelegentlich hörte sie Stimmengemurmel oder einzelne Stimmen.
Als ich Mrs. O'M. untersuchte, konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen, abgesehen von ihrer Schwerhörigkeit. Hier jedoch stieß ich auf etwas sehr Interessantes. Sie litt an einer nicht eben ungewöhnlichen Innenohrschwerhörigkeit, aber darüber hinaus hatte sie jene Art von sonderbaren Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung und Unterscheidung von Tönen, die Neurologen als Amusie bezeichnen und die vornehmlich mit einer Beeinträchtigung der Funktion der
Schläfenlappen einhergehen, in denen sich das Hörzentrum befindet. Sie klagte selbst darüber, daß ihr die Choräle beim Gottesdienst immer ähnlicher vorkamen, so daß sie sie kaum an Tonart oder Melodie, sondern nur noch an den Worten oder am Rhythmus unterscheiden konnte.' Und obwohl sie früher eine gute Sängerin gewesen war, sang sie jetzt, als ich sie darum bat, tonlos und falsch. Sie sagte auch, sie höre diese innere Musik am deutlichsten kurz nach dem Aufwachen; wenn andere Sinneseindrücke auf sie einströmten, lasse die Musik nach, und am seltensten trete sie auf, wenn sie emotional, intellektuell und vor allem visuell in Anspruch genommen sei. Während ihres etwa einstündigen Gesprächs mit mir hörte sie nur einmal Musik: einige Takte der «Easter Parade», die so laut und so plötzlich erklangen, daß sie mich kaum noch verstehen konnte.
Als wir bei Mrs. O'M. schließlich ein EEG machten, zeigte sich, daß Spannung und Erregbarkeit in beiden Schläfenlappen deutlich erhöht waren. Diese Teile des Gehirns haben die Aufgabe, eine Vorstellung von Geräuschen, Musik, komplexen Erfahrungen und Handlungsabläufen zu ermöglichen. Und immer, wenn sie etwas «hörte», schlugen die Kurven dieser hohen Hirnspannung scharf aus und zeigten deutliche Anzeichen eines
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