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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Bedeutung, die ganze reiche Vorstellungswelt, die dem Menschen eigen ist. Lurija scheint Hughlings Jacksons und Goldsteins Ansichten zu stützen, kehrt jedoch gleichzeitig ihren
    Sinn um. Sasetzkij ist nicht der blasse Abklatsch eines Menschen, wie Hughlings Jackson und Goldstein glaubten, sondern eine vollwertige Person, deren Gefühlsempfindung und Vorstellungsvermögen vollständig erhalten, ja vielleicht sogar gesteigert ist. Der Titel des Buches ist irreführend: Seine Welt ist nicht «in Scherben gefallen» - es fehlt ihr zwar an Abstraktionen, die sie zusammenhalten, aber er erfährt sie als eine außerordentlich reiche, tiefe und konkrete Realität.
    Ich glaube, daß all dies auch für die Welt der Einfältigen gilt um so mehr, als sie, für die die Welt nie anders war, das Abstrakte nicht kennen und nie durch es verführt worden sind, sondern die Realität immer direkt und unmittelbar mit einer elementaren und zuweilen überwältigenden Intensität erfahren haben.
    Wir stehen hier an der Schwelle zu einem Reich der Faszination und der Paradoxa, dessen Mittelpunkt die Vieldeutigkeit des «Konkreten» bildet. Als Ärzte, Therapeuten, Lehrer und Wissenschaftler sind wir aufgefordert, ja geradezu gezwungen, das Konkrete zu erforschen. Eben dies ist Lurijas «romantische Wissenschaft», und seine beiden großen klinischen Biographien oder «Romane» können als eine Erforschung des Konkreten aufgefaßt werden: Im Fall des hirngeschädigten Sasetzkij geht es um die Erhaltung des Konkreten im Dienst der Realität und im Fall des Mnemonikers mit seinem «Superhirn» um die Übersteigerung des Konkreten auf Kosten der Realität.
    Die klassische Wissenschaft hat für das Konkrete keine Verwendung - in der Neurologie und Psychiatrie wird es gleich gesetzt mit dem Trivialen. Eine «romantische Wissenschaft» ist erforderlich, um ihm gerecht zu werden und seine außerordentlichen Kräfte - und Gefahren - zu würdigen. Im Umgang mit Einfältigen haben wir es mit dem Konkreten in seiner reinsten, unverfälschtesten Form zu tun, hier sind wir mit einer durch nichts eingeschränkten Intensität konfrontiert.
    Das Konkrete kann Türen aufstoßen oder verschließen. Es kann das Tor zu Sensibilität, Phantasie und Tiefe sein. Es kann aber auch denjenigen, der das Konkrete beherrscht (oder von ihm beherrscht wird), in einem Netz belangloser Einzelheiten gefangen halten. Bei den Einfältigen sehen wir diese beiden Möglichkeiten gewissermaßen verstärkt.
    Eine Verstärkung der konkreten Einbildungs- und Erinnerungsfähigkeit, dieser natürliche Ausgleich für mangelndes begriffliches und abstraktes Denkvermögen, kann leicht in eine zwanghafte Beschäftigung mit Einzelheiten, in die Entwicklung eidetischer Vorstellungs- und Erinnerungswelten und die Ausformung einer Schausteller- oder «Wunderkind» Mentalität umschlagen (wie es bei Lurijas Mnemoniker und, in vergangenen Zeiten, durch die Überkultivierung der auf das Konkrete bezogenen «Kunst der Erinnerung» [21] geschah). Eine solche Tendenz besteht bei Martin A. (Kapitel 22), bei Jose (Kapitel 24) und ganz besonders bei den Zwillingen (Kapitel 23), und sie wird, vor allem bei den Zwillingen, durch die Anforderungen der öffentlichen Auftritte sowie durch ihre eigene Zwanghaftigkeit und ihren Exhibitionismus noch verstärkt.
    Aber von weit größerem Interesse und weit menschlicher, bewegender, «realer» ist die richtige Anwendung und Entwicklung des Konkreten - und obwohl diese Tatsache den Eltern und einfühlsamen Lehrern sogleich ins Auge fällt, findet sie in wissenschaftlichen Studien, die sich mit Einfältigen beschäftigen, kaum Beachtung.
    Das Konkrete kann ebensogut Einsichten in das Geheimnis volle, Schöne und Tiefe vermitteln, es kann ebensogut das Tor zum Reich der Gefühle, der Phantasie, des Geistes öffnen wie irgendein abstraktes Konzept, ja vielleicht sogar noch besser als abstrakte Konzepte, wie Gershom Scholem (1960) in seiner Gegenüberstellung des Begrifflichen und des Symbolischen oder wie Jerome Bruner (1984) in seiner Gegenüberstellung des «Paradigmatischen» und des «Narrativen» argumentiert hat. Das Konkrete läßt sich bereitwillig mit Gefühlen und Bedeutungen erfüllen bereitwilliger vielleicht als jedes abstrakte Konzept. Es öffnet sich für das Ästhetische, das Dramatische, das Komische, das Symbolische, für die ganze weite Welt der Kunst und des Geistes. Vom Standpunkt des Begrifflichen aus betrachtet mögen geistig Behinderte also

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