Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Unwillkürlich mußte ich an das Buch Prediger Salomo denken: «Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit...» Dies war es, was Rebecca, auf ihre wirre Art, zum Ausdruck gebracht hatte - eine Vision von Zeiten und Jahreszeiten, wie die des Predigers. Sie ist eine geistig behinderte Predigerin, sagte ich zu mir selbst. Und in diesem Satz begegneten sich, kollidierten und verschmolzen die zwei Eindrücke, die ich von ihr hatte: die geistig Behinderte und die Symbolikerin. Sie hatte bei den Tests sehr schlecht abgeschnitten, und diese waren ja, wie alle neurologischen und psychologischen Tests, darauf abgestellt, nicht nur Ausfälle festzustellen, sondern den Patienten darüber hinaus in Funktionen und Ausfälle zu zerlegen. In der formalen Testsituation war sie erschreckend «auseinandergefallen», aber hier war sie auf geheimnisvolle Weise wieder «gebündelt» und zusammengesetzt.
Wie kam es, daß sie, die zuvor so aufgespalten gewesen war, nun wieder ein Ganzes bildete? Ich hatte das starke Gefühl, daß ich es hier mit zwei völlig verschiedenen Arten des Denkens, der mentalen Organisation oder des Seins zu tun hatte. Die erste Art betraf das Schematische: Wir hatten ihr Geschick getestet, Muster zu erkennen und Probleme zu lösen, und dabei hatte sie sich als unzulänglich, als vollkommen unfähig erwiesen. Aber diese Tests hatten uns lediglich Aufschlüsse über ihre Mängel gegeben und nicht über irgend etwas, das sozusagen jenseits dieser Mängel lag.
Die Tests hatten mir nichts verraten über ihre positiven Fähigkeiten, über die Tatsache, daß sie die reale Welt - die Welt der Natur und vielleicht auch die der Phantasie - als ein voll ständiges, verständliches, poetisches Ganzes begreifen und dies sehen, denken und (wenn sie Gelegenheit dazu hatte) leben konnte; sie hatten mir nichts über ihre innere Welt verraten, die offenbar tatsächlich geordnet und kohärent war und der man sich anders nähern mußte als einer Reihe von Problemen oder Aufgaben.
Aber wie sah das ordnende Prinzip aus, das ihr diese Ruhe ermöglichte? Es lag auf der Hand, daß es nichts mit Schemata zu tun haben konnte. Ich dachte an ihre Begeisterung für Geschichten, für narrative Struktur und Verbundenheit. Vermochte diese junge Frau - die so bezaubernd war und gleich zeitig in ihrer Erkenntnisfähigkeit debil - tatsächlich an Stelle des schematischen Vorgehens, das bei ihr derart unterentwickelt war, daß sie es einfach nicht anwenden konnte, eine narrative (oder dramaturgische) Methode einzusetzen, um eine logisch zusammenhängende Welt zu schaffen und zu ordnen? Und während ich noch darüber nachdachte, fiel mir ein, wie sie getanzt hatte und wie koordiniert ihre sonst so unbeholfenen, plumpen Bewegungen dabei gewirkt hatten.
Unsere Tests, unsere Ansätze und «Bewertungen» sind geradezu lächerlich unzulänglich, dachte ich, während ich sie dort auf der Bank sitzen sah, wo sie in eine Betrachtung der Natur versunken war, die nichts Einfältiges, sondern geradezu etwas Heiliges hatte. Sie zeigen uns nur die Mängel, überlegte ich weiter, nicht aber die Fähigkeiten; sie führen uns Puzzles und Schemata vor, während es doch darauf ankommt, Musik, Geschichten und Spiele zu begreifen und zu erkennen, wie ein Mensch sich spontan, auf seine eigene, natürliche Weise beträgt.
Ich hatte das Gefühl, daß Rebecca unter Umständen, die es ihr erlaubten, ihr Leben auf narrative Weise zu organisieren, als «narratives» Wesen vollständig und intakt war. Und dies zu wissen, war sehr bedeutsam, denn so konnte man sie und ihre Möglichkeiten unter einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachten als dem, den die schematische Methode eröffnete.
Es war ein glücklicher Umstand, daß ich diese beiden so grundverschiedenen Erscheinungsformen von Rebecca vor geführt bekam - einerseits war sie hoffnungslos zurückgeblieben, andererseits gaben ihre Potentiale Anlaß zur Zuversicht und daß sie zu den ersten Patienten gehörte, mit denen ich in der Klinik zu tun hatte. Denn was ich in ihr sah, was sie mir zeigte, entdeckte ich jetzt auch in allen anderen.
Je öfter ich mit ihr zusammentraf, desto mehr gewann sie an Tiefe. Aber vielleicht verhielt es sich auch eher so, daß sie mir diese Tiefen in zunehmendem Maße enthüllte oder daß ich diese Dimension in ihr immer mehr
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