Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Krüppel sein - aber was ihre Fähigkeit betrifft, Konkretes und Symbolisches zu erfassen, können sie jedem «normalen» Menschen ganz und gar ebenbürtig sein. Niemand hat dies klarer ausgedrückt als Kierkegaard, als er auf dem Totenbett schrieb (ich zitiere seine Worte leicht abgeändert): «Ihr einfachen Menschen! Die Symbolik der Heiligen Schrift ist etwas unendlich Hohes ... aber sie ist nicht (hoch› in dem Sinne, daß sie etwas mit intellektueller Erhöhung oder mit den intellektuellen Unterschieden zwischen den Menschen zu tun hat... Nein, sie ist für alle da... Jeder kann diese unendlichen Höhen erklimmen. »
Ein Mensch mag intellektuell sehr «tief» stehen, er mag unfähig sein, eine Tür aufzuschließen, noch unfähiger, die Newtonschen Gesetze der Mechanik zu verstehen, und vollends unfähig, die Welt als Anordnung von Konzepten zu begreifen - und doch mag er durchaus die Gabe besitzen, die Welt als Konkretheit, als Anordnung von Symbolen zu erfassen. Dies ist die andere Seite, die fast sublime andere Seite solcher einzigartigen Menschen, solcher begnadeten Einfaltspinsel wie Martin, Jose und die Zwillinge.
Man mag einwenden, sie seien Ausnahmefälle und untypisch. Darum beginne ich diesen letzten Teil meines Buches mit Rebecca, einer gänzlich «unscheinbaren», einfältigen jungen Frau, mit der ich vor zwölf Jahren zusammentraf. Ich denke mit Wärme an sie zurück.
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Rebecca
Als Rebecca in unsere Klinik gebracht wurde, war sie kein Kind mehr. Sie war neunzehn Jahre alt, aber - wie ihre Großmutter erklärte- «in mancher Beziehung wie ein Kind». Wenn sie allein auf die Straße ging, verlief sie sich sofort, und sie war nicht in der Lage, auf Anhieb eine Tür aufzuschließen, weil sie nicht «sah» und auch nie zu begreifen schien, in welche Richtung sie den Schlüssel drehen mußte. Sie konnte links und rechts nicht unterscheiden und zog ihre Kleider manchmal, offenbar ohne es zu merken, verkehrt an- «links rum» oder mit dem Rückenteil nach vorn. Und wenn sie es doch einmal bemerkte, wußte sie nicht, wie sie den Fehler korrigieren sollte. Sie konnte Stunden mit dem Versuch zubringen, einen linken Schuh oder Handschuh am rechten Fuß oder an der rechten Hand anzuziehen. Ihre Großmutter sagte, sie scheine «kein Raumgefühl» zu haben. Alle ihre Bewegungen waren unbeholfen und schlecht koordiniert- sie war, wie es in einem Bericht hieß, «ein Tölpel», und in einem anderen stand, sie sei «motorisch debil» (obwohl ihre Unbeholfenheit verschwand, sobald sie tanzte).
Rebeccas Gaumen war teilweise gespalten, wodurch sich ihre Worte mit Pfeifgeräuschen vermischten; sie hatte kurze, dicke Finger mit stumpfen, deformierten Nägeln und litt an hochgradiger, degenerativer Kurzsichtigkeit, so daß sie eine sehr dicke Brille tragen mußte. Dies alles waren Symptome ihres angeborenen Leidens, das auch die zerebrale und geistige Behinderung hervorgerufen hatte. Sie war sehr schüchtern und gehemmt, denn sie hatte seit früher Kindheit das Gefühl, eine «Witzfigur» zu sein.
Dennoch war sie fähig, warme, tiefe, ja sogar leidenschaftliche Bindungen einzugehen. Sie empfand eine tiefe Liebe für ihre Großmutter, die sich seit ihrem dritten Lebensjahr (als ihre Eltern durch einen Unfall ums Leben gekommen waren) um sie gekümmert hatte. Sie liebte die Natur, und wenn man sie in einen Park oder in den Botanischen Garten mitnahm, verbrachte sie dort viele glückliche Stunden. Auch Geschichten mochte sie sehr, wenn sie auch (trotz beharrlicher, ja sogar verzweifelter Versuche) nie lesen gelernt hatte, und sie bat immer wieder ihre Großmutter oder andere, ihr etwas vorzulesen. «Sie hat einen Hunger nach Geschichten», sagte ihre Großmutter, und glücklicherweise las die alte Frau gern vor, nicht nur Geschichten, sondern auch Gedichte - und hatte eine schöne Stimme, der Rebecca gebannt lauschte. Rebecca schien ein tiefes Bedürfnis danach zu haben - für ihren Geist waren diese Geschichten und Gedichte eine unerläßliche Nahrung, ein Stück Realität. Die Natur war schön, aber stumm, und reichte daher nicht aus. Rebecca brauchte die Wiedergabe der Welt durch Sprachbilder und schien, trotz ihrer Unfähigkeit, einfache Aussagen und Anweisungen zu begreifen, selbst bei recht anspruchsvollen Gedichten wenig Schwierigkeiten zu haben, die darin enthaltenen Metaphern und Symbole zu verstehen. Die Sprache des Gefühls, des Konkreten, der Bilder und Symbole ließ eine Welt entstehen, die sie liebte und
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