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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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in der sie sich auskannte. Obwohl unfähig zu begrifflichem (und «propositionalem») Denken, war sie nicht nur mit der Sprache der Poesie vertraut, sondern auch selbst, auf unbeholfene, rührende Weise, eine Art «primitive», natürliche Dichterin. Metaphern, Sprachfiguren und recht verblüffende Allegorien fielen ihr von selbst ein, wenn auch unvermittelt, als plötzliche poetische Ausbrüche und Anspielungen. Ihre Großmutter war auf eine ruhige, stille Art fromm, und dasselbe galt auch für Rebecca: Sie liebte das Entzünden der Sabbat-Kerzen, die Gebete und Segenssprüche, die den jüdischen Tagesablauf begleiten, sie ging gern in die Synagoge, wo man ihr mit Liebe begegnete (und sie als ein Kind Gottes, als eine Art unschuldige, heilige Närrin betrachtete), und sie verstand die Liturgie, die Gesänge, Gebete, Riten und symbolischen Handlungen, aus denen der jüdischorthodoxe Gottesdienst besteht. All dies war ihr möglich, war ihr zugänglich und wohlig vertraut, obwohl ihre Wahrnehmung, ihr Raum-Zeit-Gefühl und ihr gesamtes Einordnungsvermögen stark beeinträchtigt waren: Sie konnte kein Wechselgeld zählen, war mit den einfachsten Rechnungen überfordert, brachte es nie fertig, Lesen und Schreiben zu lernen, und hatte bei Intelligenztests einen durchschnittlichen IQ von sechzig oder weniger (wobei zu sagen ist, daß sie im verbalen Teil deutlich besser abschnitt als im praktischen).
    Sie war also «debil», eine «Närrin» oder «Verrückte» - jedenfalls hatte sie ihr Leben lang diesen Eindruck gemacht und war auch immer so bezeichnet worden -, aber sie verfügte über eine unerwartete, seltsam rührende poetische Kraft. Oberflächlich betrachtet war sie tatsächlich eine Ansammlung von Behinderungen und Unfähigkeiten und mit allen Frustrationen und Ängsten belastet, die diesen Zustand begleiten; auf dieser Ebene war sie ein geistiger Krüppel und fühlte sich auch so - die Mühelosigkeit und Geschicklichkeit, mit der andere ihren Alltag bewältigen, blieb für sie unerreichbar. Aber auf einer tieferen Ebene empfand sie kein Gefühl von Behinderung oder Unfähigkeit, sondern eine ruhige Vollkommenheit, eine Lebendigkeit und das Gefühl, eine kostbare Seele zu besitzen und allen anderen ebenbürtig zu sein. Intellektuell fühlte sich Rebecca als Krüppel, spirituell hingegen als vollwertiger, vollständiger Mensch.
    Als ich ihr zum erstenmal begegnete und sah, wie unbeholfen und linkisch sie war, glaubte ich, sie sei nichts weiter als ein gebrochener Mensch, dessen neurologische Unzulänglichkeiten ich feststellen und genau abgrenzen konnte: Es lagen zahlreiche Apraxien und Agnosien sowie eine Vielzahl senso-motorischer Behinderungen und Ausfälle vor, und sie verfügte lediglich über begrenzte intellektuelle Schemata und Konzepte, die (nach Piagets Kriterien) etwa denen eines achtjährigen Kindes entsprachen. In meinen Augen war sie ein armes Ding, das, vielleicht durch eine Laune der Natur, über eine
    «rudimentäre Fähigkeit» zur Sprache verfügte, ein Mosaik nur aus höheren kortikalen Funktionen und Piagetschen Schemata, zurückgeblieben und verkümmert.
    Als ich sie das nächste Mal sah, hatte ich einen völlig anderen Eindruck. Es handelte sich dabei allerdings nicht um eine klinische Testsituation, in der es um eine «Beurteilung» ging. Es war ein herrlicher Frühlingstag, und da meine Arbeit erst in einigen Minuten begann, ging ich noch ein wenig im Park der Klinik spazieren. Ich sah Rebecca auf einer Bank sitzen und schweigend, mit offensichtlicher Freude, die jungen Blätter und Triebe der Bäume betrachten. Ihre Haltung hatte nichts von der Unbeholfenheit, die mir beim erstenmal so ins Auge gesprungen war. Wie sie da saß, in einem dünnen Kleid und mit einem leichten Lächeln auf ihrem ruhigen Gesicht, erinnerte sie mich plötzlich an eine von Tschechows jungen Frauen - Irene, Anja, Sonja, Nina - vor dem Hintergrund eines Kirschgartens. Sie hätte irgendeine junge Frau sein können, die einen schönen Frühlingstag genießt. Dies war das menschliche Bild, der totale Gegensatz zu meinem neurologischen Bild.
    Ich ging auf sie zu. Als sie meine Schritte hörte, drehte sie sich um, lächelte mich an und machte eine wortlose Geste. «Sehen Sie nur: die Welt wie schön sie ist!» schien sie zu sagen. Und dann brachen stoßweise seltsame, poetische Wendungen aus ihr hervor: «Frühling», «Geburt», «Wachsen», «Regung», «zum Leben erwachen», «Jahreszeiten», «alles zu seiner Zeit».

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