Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
der Ausdruck von etwas Emotionalem und Persönlichem, das nicht da wäre, wenn die geistig Behinderten nicht «reagiert» hätten, wenn sie nicht ihrerseits, worin auch immer ihre (intellektuelle) Behinderung bestand, über sehr reale Empfindungen, über emotionale und persönliche Potentiale verfügt hätten. Aber es schwingt noch mehr darin mit: Lurijas Bemerkung bringt ein wissenschaftliches Interesse an etwas zum Ausdruck, das er eines ganz besonderen wissenschaftlichen Interesses für wert hielt. Was könnte das sein? Gewiß etwas anderes als «Behinderungen» oder «Defekte» -
Dinge, die an sich nur von beschränktem Interesse sind. Was also ist es, das die Einfältigen so besonders interessant macht? Es hat etwas zu tun mit geistigen Fähigkeiten, die erhalten bleiben, ja sogar verstärkt werden, so daß diese Menschen, obwohl sie in gewisser Weise «geistig behindert» sind, in anderem Sinne geistig interessant, ja sogar vollkommen sein mögen. Es handelt sich hierbei um geistige Qualitäten, die sich vom Konzeptuellen unterscheiden - dies läßt sich besonders gut am Geist der Einfältigen erforschen, wie übrigens auch am Geist von Kindern und «Primitiven». Dabei ist, wie Clifford Geertz wiederholt betont hat, zu beachten, daß diese Gruppen nicht miteinander gleichzusetzen sind: «Primitive» sind weder einfältig noch Kinder, Kinder haben keine primitive Kultur, und Einfältige sind weder Kinder noch primitiv. Und doch bestehen zwischen ihnen wichtige Verbindungen, und alles, was Piaget an Erkenntnissen über das Denken von Kindern und Levi-Strauss über das «Denken der Primitiven» gesammelt haben, findet sich, in veränderter Form, wieder, wenn wir das Denken und die Welt der Einfältigen erforschen. [20]
Die Beschäftigung mit diesem Thema ist für das Herz ebenso befriedigend wie für den Verstand. Sie hat Lurija ganz wesentlich zu seiner «romantischen Wissenschaft» angeregt.
Was also ist diese geistige Eigenschaft, diese Disposition, die die Einfältigen kennzeichnet und ihnen jene rührende Unschuld, Transparenz, Vollständigkeit und Würde verleiht - eine Eigenschaft, die so charakteristisch ist, daß wir von einer «Welt» der Einfältigen sprechen müssen (so wie wir von der «Welt» der Kinder oder der Primitiven sprechen)?
Wenn wir diese Eigenschaft mit einem einzigen Wort umreißen wollten, so müßte dieses Wort «Konkretheit» lauten - ihre Welt ist bunt, vielfältig und intensiv, und zwar gerade, weil sie konkret ist; sie ist weder kompliziert noch gedämpft, noch durch Abstraktion vereinheitlicht.
Durch eine Art Umkehrung oder Umsturz der natürlichen Ordnung der Dinge wird Konkretheit von Neurologen oft als etwas Armseliges, Zusammenhangloses, Zurückgebliebenes betrachtet, das einer weiteren Beachtung nicht wert ist. So liegt für Kurt Goldstein, den größten Systematiker seiner Generation, die Domäne des Geistes, auf den der Mensch ja so stolz ist, ausschließlich im Abstrakten und Kategoriellen, und jede wie auch immer geartete Hirnverletzung führt seiner Überzeugung nach dazu, daß der Betreffende aus diesen luftigen Höhen in den unterhalb des Menschlichen liegenden Sumpf des Konkreten hinab gestoßen wird. Wenn jemand die «abstraktkategorielle Geisteshaltung» (Goldstein) oder die «propositionale Denkfähigkeit» (Hughlings Jackson) verliert, so ist das, was von ihm übrig bleibt, eines Menschen nicht würdig und somit von keinerlei Bedeutung oder Interesse.
Ich bezeichne dies als Umkehrung, weil das Konkrete etwas Elementares ist, weil es das ist, was die Realität «real», lebendig, persönlich und bedeutsam macht. Dies alles geht verloren, wenn sich das Verständnis für das Konkrete verliert - wie wir am Fall des fast außerirdisch wirkenden Dr. P. gesehen haben, jenes Mannes, der seine Frau mit einem Hut verwechselte und der (im Gegensatz zu Goldsteins These) vom Konkreten ins Abstrakte gefallen war.
Viel einfacher zu verstehen und insgesamt natürlicher ist der Gedanke der Bewahrung des Konkreten bei einer Gehirnschädigung - nicht Regression zum Konkreten, sondern Erhaltung des Konkreten, so daß das Eigentliche der Persönlichkeit, der Identität und des Mensch-Seins, das Wesen des Betroffenen bewahrt bleibt.
Dies ist es, was wir an Sasetzkij, dem «Mann, dessen Welt in Scherben fiel», beobachten können: Trotz der Zerstörung seiner propositionalen und abstrakten Denkfähigkeit bleibt er in seinem Wesen ein Mensch und behält die ganze moralische
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