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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Perot haben wiederholt auftretende Erinnerungen bei einigen Patienten beschrieben, die an Schläfenlappen Anfällen litten (Brain, 1963). Aber die meisten der Erfahrun-
    gen oder Reminiszenzen, die Penfield beschrieb, waren mehr passiver Natur: Die Patienten hörten Musik, sahen Szenen, auch solche, in denen sie anwesend waren, aber nicht als Agierende, sondern als Zuschauer. [19]
    Niemand von uns hatte je davon gehört, daß ein Patient eine Tat wiedererlebte, oder besser: wiederausführte. Genau dies aber geschah offensichtlich bei Donald. Wir kamen nie zu einer klaren Einschätzung dieses Falls.
    Der Rest der Geschichte ist rasch erzählt. Seine jugendliche Energie, Glück, Zeit, die natürlichen Heilungsprozesse, seine schon vor dem Unfall überdurchschnittlich entwickelten Gehirnfunktionen und die Unterstützung durch eine Therapie nach Lurija, die die «Substitution» der Stirnlappenaktivität an regt, haben dazu geführt, daß Donalds Genesung im Lauf der Jahre enorme Fortschritte machte. Seine Stirnlappen funktionieren jetzt fast normal. Der Einsatz neuer krampflösender Mittel, die erst seit einigen Jahren verfügbar sind, hat zu einer effektiven Kontrolle der Schläfenlappen-Erregung geführt, und auch hier hat wahrscheinlich die natürliche Selbstheilungskraft eine wichtige Rolle gespielt. Schließlich ist durch eine einfühlsame und unterstützende Psychotherapie Donalds Über-Ich, das sich selbst anklagte und nach einer harten Bestrafung verlangte, besänftigt worden, so daß das Ich mehr Gewicht bekommen hat. Das wichtigste jedoch ist, daß Donald seine Gartenarbeiten wieder aufgenommen hat. «Beim Gärtnern finde ich Frieden», sagt er zu mir. «Es gibt keine Konflikte. Pflanzen haben keine Egos. Sie können keine Gefühle verletzen. » Arbeit und Liebe, sagte Freud, sind die beste Therapie.
    Donald hat nichts von dem Mord vergessen oder wieder verdrängt wenn hier überhaupt eine Verdrängung von Erinnerungen im Spiel war -, aber er ist nicht mehr davon besessen. Er hat sein physiologisches und moralisches Gleichgewicht gefunden.
    Aber wie steht es mit dem erst verlorenen und dann wieder gefundenen Gedächtnis? Woher kam die Amnesie, und woher die explosionsartige Wiederkehr der Erinnerung? Warum erst der totale «Blackout» und dann diese Klarsichtigkeit? Was ist in diesem seltsamen, halbneurologischen Drama eigentlich wirklich passiert? All diese Fragen sind bis auf den heutigen Tag unbeantwortet geblieben.
20
Die Visionen der heiligen Hildegard
    Die religiöse Literatur aller Jahrhunderte ist voller Beschreibungen von «Visionen», bei denen erhabene und unaussprechliche Gefühle mit der Wahrnehmung leuchtender Erscheinungen einhergehen (William James spricht in diesem Zusammenhang von «Photismus»). In der überwältigenden Mehrheit der Fälle läßt sich nicht sagen, ob das Erlebnis durch eine hysterische oder psychotische Ekstase, durch berauschende Mittel oder durch einen Anfall von Epilepsie oder Migräne zustande gekommen ist. Eine einzigartige Ausnahme bildet die Geschichte der Hildegard von Bingen (1098 bis 1179), einer Nonne und Mystikerin, die über außergewöhnliche geistige und literarische Fähigkeiten verfügte. Von ihrer frühesten Kindheit an bis zum Ende ihres Lebens hatte sie zahllose «Visionen». Diese Erlebnisse hat sie in schriftlicher und bildlicher Form ausgezeichnet dargestellt, und zwar in den beiden Werken ‹Scivias› («Wisse die Wege» und ‹Liber divinorum operum› (Die Gotteswerke).
    Ein sorgfältiges Studium dieser Schilderungen und Bilder läßt keinen Zweifel an ihrem Ursprung: Sie waren eindeutig durch Migräne hervorgerufen, und sie beschreiben viele der bereits zuvor erwähnten Varianten visueller Auren. Singer (1958) greift in einem ausführlichen Essay über Hildegards Visionen die folgenden Phänomene als besonders charakteristisch heraus: «Bei ihnen allen ist ein hervorstechendes Merkmal ein Lichtpunkt oder mehrere Lichtpunkte, die schimmern und sich gewöhnlich wellenförmig bewegen. Diese Punkte
    werden meist als Sterne oder flammende Augen gedeutet [Abbildung B]. In vielen Fällen ist ein Licht, das größer als die anderen leuchtenden Punkte ist, von einer Reihe tanzender konzentrischer Kreise umgeben [Abbildung A]. Häufig werden eindeutig Befestigungsanlagen dargestellt, die sich in einigen Fällen deutlich von einem farbigen Hintergrund abheben [Abbildung C und D]. Oft machten die Lichter den Eindruck, als arbeiteten, kochten oder fermentierten

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