Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
respektierte. Diese Tiefen waren nicht ausschließlich mit Glücksgefühlen verbunden - das sind sie nie-, aber insgesamt überwogen sie doch für den größten Teil des Jahres.
Dann, im November, starb ihre Großmutter, und das Licht und die Freude, die sie im April ausgestrahlt hatte, verwandelten sich nun in abgrundtiefen Schmerz und undurchdringliche Dunkelheit. Sie war tieftraurig, ertrug ihr Schicksal aber mit großer Würde. Diese Würde und eine ethische Tiefe traten nun hinzu und bildeten einen düsteren und dauerhaften Kontrapunkt zu dem hellen, lyrischen Ich, das mir zuvor aufgefallen war.
Sobald ich vom Tod ihrer Großmutter erfahren hatte, besuchte ich sie, und sie empfing mich würdevoll, aber starr vor Trauer in ihrem kleinen Zimmer in dem jetzt leeren Haus. Ihre Sprache war wieder abgehackt, «jacksonisch», und bestand aus kurzen Äußerungen der Trauer und des Kummers. «Warum mußte sie mich verlassen?» rief sie und fügte hinzu: «Ich weine um mich, nicht um sie. » Und dann, nach einer Pause: «Oma hat es gut. Sie ist jetzt in dem Haus, in dem sie für immer wohnen wird. » Das Haus, in dem sie für immer wohnen wird! War dies ihr eigenes Symbol? Oder war es eine Anspielung auf das Buch Prediger, vielleicht auch eine unbewußte Erinnerung daran? «Mir ist so kalt», weinte sie und schlug die Arme um ihre Knie. «Es kommt nicht von draußen innen ist es Winter. Kalt wie der Tod», fügte sie hinzu. «Sie war ein Teil von mir. Ein Teil von mir ist mit ihr gestorben. »
In ihrer Trauer war sie ganz - tragisch und ganz -, und es konnte jetzt keine Rede davon sein, daß sie eine «geistig Behinderte» war. Nach einer halben Stunde wich ihre Erstarrung einer gewissen Wärme und Belebtheit, und sie sagte: «Es ist Winter. Ich fühle mich tot. Aber ich weiß, daß der Frühling wieder kommen wird.
Die Trauerarbeit ging langsam voran, aber sie gelang, wie Rebecca, selbst im Zustand völliger Niedergeschlagenheit, vorausgesehen hatte. Dabei erhielt sie viel Zuspruch von einer mitfühlenden und hilfsbereiten Großtante, einer Schwester ihrer Großmutter, die jetzt in das Haus zog. Auch in der Synagoge und der jüdischen Gemeinde fand sie Unterstützung. Vor allem aber gab ihr der Ritus des «Schiva-Sitzens» Kraft und der besondere Status, den sie als Trauernde und Hauptleidtragende hatte. Vielleicht half es ihr darüber hinaus, daß sie offen mit mir sprechen konnte. Und interessanterweise wurde sie auch durch Träume unterstützt, die Rebecca mir lebendig schilderte und die deutlich die Stadien ihrer Trauerarbeit erkennen ließen (siehe Peters 1983).
So wie ich mich an sie als eine Nina in der Aprilsonne erinnere, so sehe ich sie mit tragischer Klarheit vor mir, wie sie im düsteren November jenes Jahres auf einem trostlosen Friedhof in Queens steht und das Kaddisch über dem Grab ihrer Großmutter spricht. Gebete und biblische Geschichten hatten ihr schon immer gefallen, denn sie entsprachen der glücklichen, der lyrischen, der «gesegneten» Seite ihres Lebens. In den Trauergebeten, im 103. Psalm und vor allem im Kaddisch fand sie nun die passenden Worte der Trauer und des Trostes.
In den Monaten zwischen unserer ersten Begegnung im April und dem Tod ihrer Großmutter im November hatte man Rebecca, wie all unsere «Klienten» (ein unschönes Wort, daß damals gerade in Mode kam, wahrscheinlich weil es weniger abwertend klingt als «Patienten»), im Rahmen unseres «Programms zur Förderung der geistigen und kognitiven Entwicklung» (auch dies Bezeichnungen, die damals en vogue waren) verschiedenen Arbeits- und Fördergruppen zugeteilt.
Aber wie bei den meisten anderen funktionierte dieses «Programm» auch bei Rebecca nicht. Es war, das ging mir langsam auf, einfach nicht richtig - denn wir trieben sie damit an ihre Grenzen, wie es ihr Leben lang schon andere, und oft auf geradezu grausame Weise, erfolglos versucht hatten.
Wir widmeten, und Rebecca war die erste, die mir das sagte - den Behinderungen unserer Patienten viel zuviel Aufmerksamkeit und beachteten viel zuwenig, was intakt oder erhalten geblieben war. Um einen anderen Ausdruck zu gebrauchen: Wir waren zu sehr auf «Defektologie» fixiert und kümmerten uns zu wenig um «Narratologie», die vernachlässigte, notwendige Wissenschaft vom Konkreten.
Rebecca führte mir durch konkrete Beispiele, durch ihr eigenes Ich, die beiden völlig verschiedenen, völlig voneinander getrennten Formen des Denkens und des Geistes vor: die (in Bruners
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